Immortals

Wie Iraks Jugend seine Zukunft erkämpft: Milo und Khalili sind zwei Gesichter der irakischen Jugend, die seit der Oktoberrevolution 2019 unermüdlich für eine bessere Zukunft kämpft. Die Schweizerin Maja Tschumi taucht mit ihrem Dokumentarfilm «Immortals» tief ein in den Alltag des irakischen Volkes ein, dessen Durchschnittsalter bei 21 Jahren liegt. Ab 24. April im Kino
Immortals

 

Milo (r) und Freundin träumen über die Zukunft

 

«Ästhetik und Narration verbinden sich, und die Filmemacher lassen uns auf diese Weise teilhaben an der Hoffnung ihrer Protagonisten, lassen uns ahnen von der Hoffnung einer Generation eines ganzen Volkes» begründet die Solothurner-Jury ihren Entscheid zum Preis von «Immortals». Zum vertieften Ausloten des komplexen und vielschichtigen Films bringe ich nachfolgend die «Anmerkungen der Regisseurin» und im Anhang «Anmerkungen der Produktion + Historischer Kontext».

 

Die willensstarke Milo setzt sich intensiv mit der Rolle der Frau in der irakischen Gesellschaft auseinander und verkleidet sich im Alltag als Mann, um sich in Bagdad freier bewegen zu können. Khalili, ein ambitionierter Filmemacher, entdeckt die Macht seiner Kamera als Waffe im Kampf gegen das Regime.

 

Für ihren Dokumentarfilm «Immortals», der 2025 den «Prix de Soleure» gewann, ist die Zürcher Filmemacherin Maja Tschumi tief in den irakischen Alltag eingetaucht, hat intimen Einblick in die Lebenswelten von Milo und Khalili gefunden und die Hoffnungen einer jungen Generation im Irak kennengelernt, die seit der US-geführten Invasion 2003 immer im Krieg gelebt hat.

 

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Auf dem Weg zum Tahrir-Platz

 

Die Regisseurin und die zwei Protagonist*innen

 

Maja Tschumi wurde 1983 in der Schweiz geboren, lebt und arbeitet in Zürich und Berlin. Sie ist bekannt für ihre intimen Porträts von Aussenseiter*innen und Rebell*innen, die sich gegen verschiedene Formen psychologischer, sozialer und politischer Unterdrückung auflehnen. Sie machte 2013 einen Master-Abschluss in Philosophie und Literatur an der Universität Zürich und arbeitete als Dramaturgin und Theaterkritikerin für verschiedene renommierte Schweizer Theater. 2023 erlangte sie einen Master-Abschluss in Filmregie an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Ihr erster langer Dokumentarfilm, «Rotzloch», erschien 2022. Ihr gesamtes Werk zeigt Tschumis ästhetisch-ethische Qualitäten, indem sie mit empathischem und kritischem Ansatz vergessene und verdrängte Realitäten öffentlich macht.

 

Milo hat einen Bachelor-Abschluss in Soziologie von der Universität Bagdad. Während ihres Studiums arbeitete sie als Sozialarbeiterin und Fotografin und engagierte sich in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Projekten. Als Freiwillige bot sie Computerkurse in Frauenorganisationen an, leistete psychologische Unterstützung für Opfer von Missbrauch und Gewalt und war in verschiedenen selbstorganisierten feministischen Gruppen aktiv.

 

Khalili schloss sein Studium an der Universität Bagdad mit einem Bachelor of Fine Arts in Film ab. Nach seinem Abschluss arbeitete er als Kameramann im kommerziellen Sektor, bis die Oktoberrevolution ausbrach und er all seine Energien dem politischen Kampf widmete. Heute ist er als Video Content Manager für Toyota in Bagdad tätig.

 

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Khalilis Kamera filmt die Oktoberrevolution.

 

Maja Tschumi zum Film

 

Entstehung: Ich bin politisch aktiv, seit ich 18 Jahre alt bin. Im Herbst 2019 lernte ich in Berlin A. kennen, einen Aktivisten aus Bagdad, als die sogenannte Oktoberrevolution auf ihrem Höhepunkt war. Was A. von der Oktoberrevolution erzählte, hat mich tief bewegt. Ich war beeindruckt vom unglaublichen Mut der jungen Aktivist*innen, die trotz überwältigender Gewalt für mehr Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und eine bessere Zukunft kämpften. Wir beschlossen, gemeinsam einen Film zu machen; mit dem Ziel, der Welt eine neue Generation des Iraks näher zu bringen, eine Generation, die international kaum gesehen wird. Aus persönlichen und sicherheitstechnischen Gründen musste sich A. später aus dem Projekt zurückziehen. Weil ich zu diesem Zeitpunkt bereits ein Netzwerk in Bagdad aufgebaut und Protagonist*innen gefunden hatte, beschloss ich, die Regie alleine, in enger Zusammenarbeit mit der irakischen Filmcrew, weiterzuführen. Als Aktivistin und ausländische Filmemacherin fühlte ich mich verpflichtet, die Geschichten und Kämpfe der jungen Menschen, die ich kennenlernte, zu teilen.

 

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Milo gibt sich als Mann aus.

 

Wer erzählt die Geschichte, und wie?: Ich habe diese Frage von Anfang an mit allen Beteiligten diskutiert. Dokumentationen basieren auf Vertrauen zwischen Filmemacher*innen und Protagonist*innen sowie darauf, dass Mitgefühl und Verständnis die Basis sind. Im Fall von «Immortals» ist es entscheidend, dass ich meine privilegierte Position und die damit verbundene Verantwortung reflektiere, einschliesslich geopolitischer Beziehungen und des Orientalismus.

 

Für mich sind die Iraker*innen die Expert*innen ihrer eigenen Geschichten, während ich meine Rolle als Übersetzerin für ein westliches Publikum sehe. Ich habe stets nach Wegen gesucht, dass die Protagonist*innen den Film mit ihren Stimmen repräsentieren. Für mich ist dieser Film eine Kollaboration und ein Lernprozess, ein Dialog zwischen Westen und Osten. Khalili erfüllte dieses Kriterium, da er während des Aufstands selbst gefilmt hatte. Er wünschte sich dringend, sein Filmmaterial einer ausländischen filmschaffenden Person anzuvertrauen. Denn er wollte seine Geschichte ohne Zensur erzählen und eine globale Reichweite sicherstellen.

 

Mir war es sehr wichtig, zusätzlich eine Frauenstimme im Film zu haben. Frauen in einer geschlechtergetrennten Gesellschaft wie dem Irak stehen anderen Problemen gegenüber als Männer. Die Suche nach einer weiblichen Hauptfigur gestaltete sich als Herausforderung, da es für Frauen problematisch ist, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Trotz der damit verbundenen Risiken war Milo bereit, an dem Projekt mitzuwirken und brachte von Anfang an Ideen in unsere Zusammenarbeit ein. Als ich sie kennenlernte, wurde sie zunehmend bedroht und hatte dadurch bereits beschlossen, den Irak zu verlassen.

 

Von Anfang an stand ich in einem täglichen Austausch mit Milo und Khalili. Ich unternahm mehrere Recherchereisen und konnte ein aussergewöhnliches Vertrauen zu den Protagonist*innen und der irakischen Filmcrew aufbauen. Unser irakischer Co-Produzent wurde mein Sparringspartner. Er half mir, die einzuhaltenden Sicherheitsschranken zu verstehen, und öffnete mir viele Türen. Ich führte lange Diskussionen mit irakischen Filmemacher*innen, Künstler*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen, um Wege zu finden, die Oktoberrevolution zu erzählen, ohne rote Linien zu überschreiten, welche die irakische Crew gefährden würden.

 

Milo und Khalili sind Co-Autor*innen des Films. Sie behielten somit die Kontrolle darüber, wie der Film sie darstellt. Während des gesamten Prozesses war es mir wichtig, dass Iraker*innen die Mehrheit unserer Crew bilden. Die Zusammenarbeit mit dem in Deutschland ansässigen arabischen Editor Alex Bakri sollte ausserdem einem westlichen Bias entgegenwirken.

 

Re-Enactment: Wir entschieden uns gegen heimliche Filmaufnahmen, um die Sicherheit aller zu gewährleisten. Diese Einschränkung beeinflusste die Erzählweise und führte zu einer subjektiven hybriden Erzählform des Re-Enactments (Nachstellung). Die Protagonist*innen waren massgeblich daran beteiligt, die Handlung und die Charakterentwicklung mitzugestalten. Die nachgestellten Szenen wurden entlang dramaturgischer Handlungsstränge gefilmt, zeigen jedoch Ereignisse oder Dialoge, die sich tatsächlich so zugetragen hatten.

 

Künstlerische Vision: Die Grundlage des Films bildet das gegenwärtige Leben von Milo und Khalili. Wie in einem Rückblick tauchen wir in Khalilis Filmmaterial von der Revolution ein und erfahren, wie dieser Aufstand das Leben der Protagonist*innen tiefgreifend veränderte und eine ganze Generation prägte.

 

Milo und Khalili sind zwei sehr unterschiedliche Protagonist*innen, die sich gegenseitig spiegeln und ergänzen. Der Film ist in die Kapitel «Verborgene Kämpfe», «Konfrontation», «Entscheidungen» gegliedert und drückt diese Individualität einfühlsam durch unterschiedliche filmische Erzählstränge aus. Bagdad als Stadt hat für mich etwas Anachronistisches. Die Kriege haben die Stadt in die Vergangenheit zurückgeworfen. Doch die Jugend ist mit der modernen Welt verbunden. Ich wollte diese Spannung in der Filmsprache zum Ausdruck bringen, entwickelte ein passendes visuelles Konzept, das Khalilis Aufnahmen der Proteste mit analog wirkenden Bildern des heutigen Iraks kombiniert.

 

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Die Freundinnen am Tigris

 

Nachbemerkung

 

Wer bei «Immortals» neben der Hoffnung Wut, Trauer oder Verzweiflung empfindet und nachfragt, schreit oder weint über die Wirklichkeit im Irak, 4000 Kilometer von uns entfernt, die seien erinnert, dass es ähnliche, analoge Situationen auch in andern Ländern, Religionen gibt, heute noch fern, morgen vielleicht schon nahe.

 

Solche und ähnliche Reaktionen auf diesen Film sind, so meine ich, meilenweit entfernt von dem, was das Mainstream-Kino in uns auslöst. Es scheint mir deshalb wichtig, dass wir uns mit der Wirklichkeit in «Immortals» auseinandersetzen, weil es auch unsere Welt ist, an der wir immer irgendwie beteiligt sind.

Anmerkungen der Produktion + Historischer Kontext

Regie: Maja Tschumi, Produktion: 2024, Produktion: 94 min, Verleih: Cineworx