Good Luck to You, Leo Grande

Was die Regisseurin Sophie Hyde - mit Emma Thompson und Daryl McCormack in den Hauptrollen - mit «Good Luck to You, Leo Grande» geschaffen hat, ist lustig, tiefsinnig, feministisch und politisch, einfach sensationell.
Good Luck to You, Leo Grande

Emma Thompson als Nancy, Daryl McCormack als Leo Grande

Eine Frau bezieht ein Hotelzimmer, ein Mann verlässt ein Café. Ihr Blick ist unsicher, sein Gang selbstsicher. Während sie ein wenig verloren ihre Unterkunft erkundet, prüft er sein Äusseres im Vorbeigehen in einer Schaufensterscheibe. Ein Popsong spielt bittersüss dazu. Jede seiner Gesten ist bedacht, elegant und sexy, alles an ihr wirkt bieder und verklemmt. Am Ende dieser fein montierten Titelsequenz klopft er an ihre Tür – und eine wunderschöne Tragikomödie nimmt ihren Lauf.

Emma Thompson, 63 Jahre, Mutter zweier Kinder, spielt Nancy Stokes, Mutter zweier Kinder, pensionierte 55-jährige Religionslehrerin und seit zwei Jahren verwitwet. Nach dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren, der sie beim ehelichen Pflicht-Sex nie nach ihrem Befinden fragte, hatte sie reichlich Gelegenheit, einen neuen Mann in ihrem Alter zu finden. Doch an alten Männern ist sie nicht interessiert. Sie will einen jungen mit knackigem Körper. Dass sie dafür bezahlen muss, dessen ist sie sich bewusst und nach reiflicher Überlegung endlich auch bereit.

Jetzt kommt der Mann aus der Titelsequenz ins Spiel: Daryl McCormack, 30 Jahre, stattliche 1,88 Meter gross, spielt Leo Grande, um die 30 Jahre, im Gegensatz zu McCormack jedoch kein aufstrebender Schauspieler, sondern ein verführerischer und einfühlsamer Sexarbeiter, der seinen Beruf liebt. Nancy hat ihn gebucht, um all das im Bett auszuprobieren, was mit ihrem Mann nicht möglich war. Und weil sie die Lehrerin auch im Pensionsalter nicht ablegen kann, hat sie eine Liste mitgebracht, die es abzuarbeiten gilt. Leo nimmt es einfühlsam, mit Humor, Augenzwinkern und ohne die «kleine blaue Pille».

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Nancy, im Hotelzimmer wartend

Frauen-Power rund um den Film

Das Buch stammt von der Britin Katy Brand, die vornehmlich als Komikerin und Schauspielerin unterwegs ist. Regie führte die Australierin Sophie Hyde. Ihre Präsentation des Films: «Zwei Schauspieler in einem Raum erforschen Intimität, Verbundenheit, Sex, Frustration und wechselnde Machtdynamik.» Was einfach tönt, war harte Arbeit. In nur 19 Tagen gedreht, schuf der Film im Vorfeld umfangreiche Probleme und verlangte ungewöhnliche Methoden, um Hemmschwellen abzubauen und die dargestellte Intimität glaubwürdig erscheinen zu lassen. Naheliegend wäre es, wenn sie vor dem Drehbuch den Salt-n-Pepa-Hit «Let's Talk About Sex» gehört hätte; geht es hier doch um Sex, aber ebenso um die Sorgen und Nöte zweier Personen, wozu der zweite Satz des Refrains doch perfekt passt: «Let's Talk About You and Me.»

In Interviews gab Emma Thompson zu Protokoll, dass sie, ihr Schauspielkollege und die Regisseurin während der Proben sich nach und nach ihrer Kleidung entledigten, um sich schliesslich völlig nackt mit ihren Körpern vertraut zu machen und darüber zu sprechen, was ihnen daran gefalle und missfalle. Auch darum gehe es im Film. «Unsere Scham, Fehlkommunikation, sexuelle Verbindungen und Frustrationen», sagt Sophie Hyde. Entstanden ist nach intensiver Vorarbeit ein Kammerspiel in vier Akten: Viermal bucht Nancy Leo, viermal kommen sich die zwei körperlich und zwischenmenschlich näher und loten ihre Grenzen aus, bis dabei einmal etwas zerbricht, was auf den ersten Blick nicht mehr gekittet werden kann, das Ende aber dennoch anders wird – weil Nancy zu erstaunlicher Einsicht fähig ist.


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Leo, vor der Begegnung


Was der Film uns bietet


«Good Luck to You, Leo Grande» bietet weit mehr als unterhaltsame 96 Minuten über eine alte Jungfer, die es noch einmal wissen will. Der Regisseurin ist das Kunststück geglückt, einen Film über Lust, Lebenslügen und die heilende Wirkung von Sex zu drehen, der amüsiert, nachdenklich macht, versöhnlich stimmt und ungemein sexy ist. Die von ihr angesprochene Fehlkommunikation besteht wohl darin, sich die eigene Lust nicht eingestehen zu wollen oder, hat man sie sich endlich eingestanden, sich nicht zu trauen, sie mit jemand anderem zu teilen. Was wiederum mit der Scham zu tun hat, was die Protagonistin an der Berlinale auf den Punkt brachte: «Das ist das Problem, nicht wahr, dass Frauen ihr ganzes Leben lang einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, ihre Körper zu hassen.»

Nackt vor dem Spiegel zu stehen, ohne dabei den Bauch einzuziehen, den Körper zur Seite zu drehen oder sonst irgendwie in ein gutes Licht zu rücken, wie es Nancy tut, sei denn auch das Schwerste gewesen, das sie in ihrer Schauspielkarriere je vollbringen musste, sagte die Oscar-Preisträgerin. Doch wie alles in diesem Film meistert sie auch diese Szene mit Bravour. Und auch von ihrem Filmpartner Daryl McCormack, bei dem jede Nuance sitzt, wird künftig wohl noch zu hören sein. Am Ende ist Nancy nämlich mit sich und ihrem Körper zufrieden – und entlässt ein zufriedenes Kinopublikum.

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Beide auf dem Bett ...


Einspruch und Entgegnung


Bevor man nun aufbraust, ob es denn nicht «wichtigere» Probleme auf der Welt gibt als der Spass von Frauen, sollte man in Betracht ziehen, womit Staatsapparate in der halben Welt noch heute beschäftigt sind: genaue Regelungen festzulegen, was weibliche Körper dürfen und was nicht, was beispielsweise auf der Agenda des Obersten Gerichtshofs der USA im Jahr 2022 steht. Dann wird einem klar, dass Frauenkörper und deren Funktion nicht nur politisch brisant sind, sondern auch scheinbar für viele von grossem Interesse, da sie ununterbrochen über diese zu bestimmen haben. Doch geht es um die Lust dieser Körper, will keiner davon wissen, schlimmer, wird dies für unwichtig gehalten, sodass die Frauen sich schliesslich schämen, überhaupt darüber zu sprechen. «Leo Grande» geht weit über Sex hinaus. Er zeigt eine von Grund auf unsichere, patriarchal geprägte Frau, die ihre eigenen Bedürfnisse tabuisiert und sich so ein Leben lang vernachlässigt hat.

Realisiert wird der Film mit beeindruckenden Bildern vor allem der Gesichter und Körper. Der Film ist progressiv und sensationell! Er hat eine 100-prozentige Garantie auf den Oscar für die beste Darstellerin und das beste Drehbuch. Aber nichts davon fühlt sich erzwungen an, der Film wurde einfach gemacht, um eine Geschichte zu erzählen, was eine willkommene Überraschung darstellt. «Good Luck To You, Leo Grande» ist fantastisch und realistisch zugleich. Wie es Thriller gibt, die Thrill erzeugen, aktuell «Burning Days», damit aber nicht Zeit totschlagen, sondern erfüllen, genau so gibt es Komödien, die Lachen auslösen, damit aber nicht betäuben, sondern mit dem Lachen zum Kern des Menschen führen. Einen solchen Film hat Sophie Hyde mit ihrer Crew geschaffen.

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... im Bett

Vor dem Spiegel

 

Grossartig die Schlussszene, in welcher Nancy nackt vor einem Spiegel steht und versucht, vielleicht zum ersten Mal, sich selbst zu betrachten, ohne sich dabei für irgendetwas an ihrem Aussehen schämen zu müssen. Die Protagonistin kommentiert dies bei der Pressekonferenz an der Berlinale: «Das wohl Schwierigste, was ich je tun musste, war, entspannt zu stehen und meinen Körper zu betrachten, ohne über ihn zu urteilen. Wir sind es gewohnt, unseren Körper nicht zu mögen, und schon früh konditioniert worden, dies zu tun, weil sie nicht den unerreichbaren und eigentlich grausamen Idealen entsprechen, die uns gezeigt werden. Wir sind nicht daran gewöhnt, unretouchierte, untrainierte Körper auf der Leinwand zu sehen.» Sie selbst könne nicht einfach so vor einem Spiegel stehen; sobald sie das tue, ziehe sie den Bauch ein oder drehe sich seitwärts. Frauen wurden ihr ganzes Leben lang einer Gehirnwäsche unterzogen, ihren Körper zu hassen. Alles um uns herum erinnert daran, wie unperfekt wir sind und was alles bei uns nicht stimmt, wir so und so aussehen sollen.» Zum Schluss forderte sie das Publikum auf, das mal selber zu probieren: «Ziehen Sie sich mal aus und stellen Sie sich still vor einen Spiegel, bewegen Sie sich nicht, akzeptieren Sie sich, wie Sie da so stehen und aussehen, ohne Werturteil!»

Regie: Sophie Hyde, Produktion: 2022, Länge: 96 min, Verleih: Ascot-Elite