Night of the Kings

Innenschau eines Gefängnisses: Ein Strassenjunge kommt in ein Gefängnis besonderer Art, wo er Regeln und Rituale zu befolgen hat, wenn er überleben will. Philippe Lacôte, ein bemerkenswerter Regisseur der Elfenbeinküste, lässt uns mit dem Film «Night of the Kings» eintauchen in die Kultur Afrikas.
Night of the Kings

Zama (Mitte) bei seinem Erzählmarathon

Die Figur des Strassenjungen Zama ist der persischen Geschichte «Tausendundeiner Nacht» entlehnt. Wie Scheherazade dort viele Nächte, so muss Zama hier eine Nacht lang Erzählungen vortragen, um am nächsten Morgen nicht getötet zu werden. Das Geschichtenerzählen in diesem Film ist auch als Hommage an die Tradition der Griots zu verstehen, die in Teilen Westafrikas als berufsmässige Sänger, Dichter und Instrumentalisten epische Texte vortragen. Der turbulente, aktionsreiche Spielfilm «Night of the Kings» von Philippe Lacôte kann als politische Fabel von shakespearescher Schönheit gelesen und verstanden werden, die uns in ihrer Exotik vielleicht verwirrt, aber gleichzeitig fasziniert.

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Barbe Noir, der abtretende Gefängnisboss

Zama erzählt, um zu überleben

Abidjan, Elfenbeinküste, Westafrika. Ein junger Mann in Handschellen fährt in einem Polizei-Pickup durch einen Wald und an langen grauen Mauern vorbei. Sein Ziel ist das MACA, la Maison d’Arrêt et de Correction d’Abidjan, das überfüllteste Gefängnis des Landes, die einzige Strafvollzugsanstalt, die von ihren Gefangenen selbst verwaltet wird, wie es der Oberaufseher leicht ironisch betont. Dort angekommen, wird der junge Straftäter zum Roman, dem Geschichtenerzähler, ernannt und gleichzeitig den grausamen Spielen des Gefängniskönigs Barbe Noir ausgeliefert. Dieser ist todkrank und kurz vor dem Abtreten, was für ihn Selbstmord bedeutet. Doch gerade deshalb besteht er darauf, die Gefangenen zu unterhalten, um die Kontrolle nicht zu verlieren, da ein Aufstand droht. Die Meute der Lascars will an die Macht und wartet auf einen günstigen Moment im Kampf gegen die Horde der Mikroten. Inmitten dieses drohenden Bandenkriegs, der die Insassen aufwühlt, bleibt Roman keine andere Wahl: Er muss sich dem gewalttätigen Königshof und seinen seltsamen Höflingen stellen, und sobald der Blutmond aufgeht, mit seinen Geschichten beginnen. Denn im Morgengrauen würde er, wenn er nicht durchhält, getötet. Zama erzählt, Episode um Episode, aus seinem Leben, gibt sich dabei aber als Zama, den Bandenchef aus der Hauptstadt, aus. Unterbrochen und ergänzt werden seine Erzählungen von Szenen der übrigen Gefangenen. Die Handlungen im Gefängnis wirken wie ein Bühnenstück, die Strassenkämpfe und magischen Duelle oft wie ein Ballett aus menschlichen Körpern.

Philippe Lacôte, der Regisseur, ist eine gefeierte Persönlichkeit des afrikanischen Kinos. «Night of the Kings», nach «Run» sein zweiter Film, vertritt die Elfenbeinküste beim Oscars 2021 in der Kategorie Bester Internationaler Film. In einer Zeit, in der die Kultur weltweit versucht, auf Werke von schwarzen Künstler*innen aufmerksam zu machen, bietet das Schaffen dieses französisch-ivorischen Regisseurs einen guten Zugang zur Kultur der Elfenbeinküste und allgemein der Urkultur Afrikas. Dies dank der zentralen Figur eines Griots, die in diesem Film Zama einnimmt: als erzählender Barde, Lobliedsänger und Hüter der mündlichen Geschichte der Vorfahren. «Die Nacht der Könige» erhebt sich gelegentlich ins Fantastische, einige Szenen bringen ihn zum Singen. Lacôtes Tribut ist eine kraftvolle Geschichte, welche die mündlichen Überlieferungen und die Rituale feiert, welche den Menschen helfen sollen, das Leben ein wenig erträglicher zu erfahren, aufgenommen von Tobie Marier-Robitaille üppigen, warmen Farben. – Vieles in diesem Film bleibt uns Westlern vielleicht fremd. Sich damit auseinanderzusetzen, dürfte jedoch bereichern.

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Sexy, die Mann-Frau unter den vielen Männern

Lacôte beschreibt das Leben an der Elfenbeinküste

«Night of the Kings» beschreibt Afrika, am Beispiel eines immensen Gefängnisses, als vielleicht allerletzte antike Bühne, auf der sich Tragödien und Machtspiele auf dermassen rohe, direkte und eminent visuelle Weise abspielen. Gleichzeitig schildert der Film die Wichtigkeit und Bedeutung von Geschichten. Da Fiktion heute vor allem online konsumiert wird, erleben wir hier nochmals wunderbare, realistische, furchterregende und lustige Geschichten, von einfallsreichen Erzähler*innen vorgetragen: Sinnlichkeit und Monumentalität pur. Der Film kann zudem, meint der Regisseur, eine weiterführende Debatte über eine zentrale Idee anregen: dass Worte Gewalt abwehren und besiegen können. – Um weiter in diesen Film und die Kultur Westafrikas einzusteigen, gebe ich nachfolgend dem Regisseur das Wort.

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Immer und immer wieder wühlen Kriege die Gesellschaft auf

Aus einem Interview mit Philippe Lacôte

«Night of the Kings» basiert auf Ihren Erinnerungen an einen Besuch von Abidjans berüchtigtem MACA-Gefängnis in Ihrer Kindheit.

Als Kind fuhr ich einmal die Woche in einem Gemeinschaftstaxi dem Rande des Nationalparks entlang, um meine Mutter zu besuchen, die dort aus politischen Gründen inhaftiert war. Da es im MACA keine Besucherräume gibt, wartete ich inmitten der Häftlinge, die sich frei unter den Besuchern bewegten. Ich lauschte den Gesprächen der Gefangenen. Auch wenn ich nicht alles verstand, war es eine Welt, die ich mit Interesse beobachtete. Ich hatte den Eindruck, mich am Hof eines archaischen Königreichs mit Prinzen und Lakaien zu befinden. Das MACA ist ein Gefängnis, das bei mir starke Bilder und Erinnerungen hinterlassen hat. Der Film lebt von diesen Bildern, die das Gefängnis von Innen, aus der Sicht der Insassen zeigen.

Der Film zeichnet ein realistisches Bild des Gefängnislebens, einer Welt mit ihren eigenen Geschichten, Hierarchien und Ritualen.

«Night of the Kings» hat seinen Ursprung im Gespräch mit einem Freund aus Kindertagen, der gerade aus dem MACA kam. Er war es, der mir vom Ritual der Romans berichtete, in dem ein Gefangener dazu ausgewählt wird, Geschichten zu erzählen. Die Story des Films basiert also auf einer Tradition, die es in diesem Gefängnis tatsächlich gibt. So hatte ich einen Einstieg und eine Figur für diese Arena. Das Gefängnis hat mich schon immer als ein Ort interessiert, an dem mit den Machtverhältnissen in unserer Gesellschaft experimentiert wird. Das gilt umso mehr, wenn es sich um ungleiche Gesellschaften handelt. Du kannst heute in Afrika sehr leicht ins Gefängnis kommen, entweder weil du arm bist, oder weil man an dir ein Exempel statuiert, um sicherzustellen, dass die Gesetze eingehalten werden. Die afrikanischen Gefängnisse sind voller junger Menschen, die jahrelang ohne Gerichtsurteil in Gruppenzellen inhaftiert sind. Doch abgesehen von dieser sozialen Realität haben meine Recherchen das Gefängnis als einen Ort erfahren, wo Geschichten erfunden werden. Welche Geschichten erzählt man sich im Gefängnis? Welche Fantasien entwickelt man, wenn man körperlich eingesperrt ist? Ich bin der Ansicht, dass jede Gruppe von Menschen, die für eine gewisse Zeit am selben Ort lebt, eine eigene Kultur entwickelt. Und jede Kultur erschafft ihre Poesie.

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Die Königin aus einer der Legenden

Zurück zu den Quellen mit Roman und Griot

Der Taschendieb, der im Gefängnis zum Roman, dem Geschichtenerzähler, gemacht wird, ist der Erzähler seiner eigenen und gleichzeitig einer allgemeinen Geschichte. Er ist auch Teil eines grösseren Gefängnisrituals, das Poesie, Gesang und Tanz beinhaltet, da sich die Gefangenen der Performance anschliessen. Wie ist dieses Ritual mit der breiteren westafrikanischen Tradition der Griots verbunden?

In den westafrikanischen Gesellschaften tritt der Griot als Geschichtenerzähler, Historiker und Lobsänger auf. Drei Dinge, die nicht ohne einander existieren können. Das ist es, was Roman als Erzähler tut, wenn er das Leben einer realen Figur in einen Mythos verwandelt. In seiner Geschichte wechselt er von Realismus zu Magie, von politischer Tatsache zur Legende. Romans Geschichtenerzählen mitten im Gefängnis geht auf die Kunst der Griots zurück. Wie bei diesen werden Zamas Geschichte immer wieder von Liedern und Tänzen der Mitinsassen des Gefängnisses unterbrochen. Des Weiteren ist «Night of the Kings» auch von urbanen Kulturen inspiriert, ähnelt Battles oder Stage-Performances.

Regie: Philippe Lacôte, Produktion: 2020, Länge: 93 min, Verleih: xenixfilm