La tête en friche

Nun folgt – nach «Mammuth», «Small World», «Satte Farben vor Schwarz», «Another Year», «Welcome to the Riley», «Das Ende ist mein Anfang» und «La dernière fugue» – der letzte der Filme über das Alter, die derzeit in den Schweizer Kinos laufen: «La tête en friche»!

germain-margueritte.jpg

Jean Becker erzählt darin eine Geschichte voller Humor und Lebensfreude, französischer Lebensart, mit einem grossartigen Gérard Depardieu und einer begeisternden Gisèle Casadesus, umgeben von einer Schar weiterer guter Comédiens.

Mit feinem Sprachgefühl ist eine Komödie gelungen, die zu Herzen geht, lustig, durch und durch menschlich ist. Zärtlich, voller Hoffnung erzählt der Film davon, dass es nie zu spät ist, Neues zu lernen und glücklich zu werden. Wie schon in früheren Filmen beschwört Jean Becker – der Sohn des berühmten Jacques Becker (1906 bis 1960) – einmal mehr meisterhaft, leicht und dennoch auf den Punkt gebracht, seine Geschichte: die Zwischenmenschlichkeit, den Realismus des Landlebens, den Charme und die Kultur des Herzens der so genannten «kleinen Leute». «Dieser Germain, das hätte ich sein können», charakterisiert Depardieu seine Rolle, die ihm perfekt auf den eindrucksvollen Leib geschrieben scheint. Und bei Gisèle Casadesus scheint das Alter nichts von ihrem Charme genommen zu haben.

Eine Geschichte zum Schmunzeln und Lachen

Es ist die Geschichte über eine dieser Begegnungen, die das Leben verändern können: das Zusammentreffen in einem Park zwischen Germain, um die 50, praktisch Analphabet, und Margueritte, einer kleinen, alten Dame und leidenschaftlichen Leserin. Vierzig Jahre und hundert Kilo trennen sie. Eines Tages setzt Germain sich zufällig neben sie. Eine zierliche, elegante, gebildete alte Dame, neben welcher Germain in seinem karierten Hemd und Arbeiterhose wie ein ungehobelter, aber gutmütiger Elefant wirkt. Margueritte liest ihm Passagen aus Romanen vor und eröffnet ihm die Welt und die Magie der Bücher, von denen er sich bisher ausgeschlossen fühlte. «Sie sind ein guter Leser», sagt sie ihm, «lesen ist auch zuhören.» Ganze Bücher liest die alte Dame dem «jungen Mann», wie sie ihn nennt, bei ihren regelmässigen Treffen auf der Parkbank vor. Bücher, die ihm eine neue Welt eröffnen, die er begierig in sich aufnimmt.

Für sein Umfeld, die Freunde im Bistro, die ihn bis jetzt für einen Einfaltspinsel gehalten haben, wechselt die Dummheit mit einem Mal die Seite. Doch dann verliert Margueritte immer mehr ihr Augenlicht, und aus tief empfundener Freundschaft zu dieser verschmitzten alten Dame übt Germain lesen und zeigt ihr, dass er in der Lage sein wird, ihr vorzulesen, wenn sie selbst es nicht mehr kann.

jeanbecker.jpg

Aus einem Interview mit dem Regisseur Jean Becker

Wie sind Sie auf den Roman von Marie-Sabine Roger aufmerksam geworden, und was hat Sie gereizt, ihn zu adaptieren?

Ich habe jemanden, der mir bei der Recherche hilft und der mich auf das Buch «La tête en friche» hingewiesen hat. Schon bei der Lektüre bin ich seinem Charme verfallen. Die Figur dieses freundlichen, etwas ungehobelten Kerls, der unter seiner mangelnden Bildung leidet, hat mich gleich gefangen genommen. Man könnte denken, er sei etwas simpel, auch wenn er es überhaupt nicht ist. Und durch das unvorhergesehene Zusammentreffen mit einer alten gebildeten Dame, die ihm den Reichtum der Literatur nahebringt, entwickelt er sich weiter. Sie erschliesst sozusagen seinen Geist, macht ihn urbar.

Wann haben Sie daran gedacht, Gérard Depardieu mit der Rolle des Germain zu besetzen?

Sehr früh. Sogar ehe ich mich aufs Schreiben des Drehbuchs gestürzt habe. Ich habe das Buch meinem Agenten zu lesen gegeben. Er hat mir dann den Namen Depardieu nahegelegt und gefragt, ob er ihm das Buch schicken dürfe. Gérard hat mich drei Tage später angerufen und mit mir über eine Stunde lang eifrig darüber geredet, bis in die kleinsten Details. Ich glaube, er verstand das Buch so gut wie ich, wenn nicht besser, was das Fliessende und die Kraft seiner Interpretation erklärt. Jedenfalls hat mich seine tiefe Liebe zu dieser Geschichte darin bestärkt, den Film zu machen, zumal mit der Aussicht, ihn an Bord zu haben! Und schliesslich auch diese alte Dame, eine aussergewöhnliche Schauspielerin von 95 Jahren: Gisèle Casadesus! Nach einer Vorführung sagte mir jemand: «Diese beiden sind dazu bestimmt, sich zu treffen.» Diese Bemerkung hat mich wirklich gefreut, weil sie genau das Thema des Films wiedergibt.

Was für eine Art Regisseur sind Sie am Set?

Ich mag es, einfaches Kino zu machen. Wie mein Vater mir oft erklärt hat, zeichnet eine gute Regie aus, dass man sie nicht bemerkt. Wenn man sie bemerkt, geht das zu Lasten der Geschichte, weil man sich auf alles andere als das Wesentliche konzentriert. Meine Regie beschränkt sich also darauf, die Entwicklung meiner Figuren im Verlauf der Handlung zu begleiten, mit dem immer gleichen Ziel, dass die Zuschauer nicht als genau dieselben den Saal verlassen, als die sie gekommen sind.

Wenn man „La tête en friche» gesehen hat, ist man überwältigt, ohne den Eindruck zu haben, emotional erdrückt worden zu sein. Wie schaffen Sie das?

Es geht mir nicht darum, larmoyant zu sein, auch wenn manche das meinen, und ich glaube, ich habe auch nicht auf den Knopf der Gefühlsduselei gedrückt. Ich versuche einfach, das zu erzählen, was mich bewegt hat und diese Emotion auf die Leinwand zu bringen.

allein.jpg

Aus einem Interview mit Gérard Depardieu

Jean Becker war schon Mitte der 90er Jahre Ihr Regisseur. Doch wie lange kennen Sie beide sich schon?

Ich habe das Gefühl, wir kennen uns schon immer. Denn durch seine Herkunft ist Jean Teil einer Cineasten-Familie, deren Mitglieder mehr oder weniger alle für mich wie Väter sind: Seien es Schauspieler wie Gabin, Blier, Paul Meurisse, Pierre Brasseur oder Michel Simon, oder Autoren wie Michel Audiard mit seinem unvergleichlichen Gespür für Dialoge, für die französische Sprache generell – das ist etwas, das mehr und mehr verloren geht. Es ist kein Zufall, dass Jean, neben Claude Chabrol, einer der wenigen Filmemacher ist, der diesen Geist aufrecht erhält und zum Leben erweckt. Er repräsentiert diesen Typ des populären Kinos, das langsam verschwindet.

Wie sind Sie bei «La tête en friche» ins Boot gekommen?

Bertrand de Labbey hat mir das Buch zu Lesen gegeben. Gleich als ich es gelesen hatte, habe ich ihn angerufen um ihm zu sagen, dass Jean es wirklich versteht, grossartige Bücher auszuwählen. Denn was braucht es sonst im Kino, wenn nicht eine schöne Geschichte wie diese? Ich hasse Effekte, die in Filmen immer mehr zum Einsatz kommen. Jean verweigert sich diesem Trend. Und der Roman, den er sich zur Adaption ausgesucht hat, ist einfach umwerfend, im wahrsten Sinne des Wortes. Also, um Germain zu spielen, muss man sich nur treiben lassen.

Was sehen Sie in diesem Germain?

Er sieht nicht das Schlechte in den Dingen. Er hat seine Komplexe, aber man kann ihn nur schwer wütend machen. Er ist von einer ungewöhnlich positiven Grundstimmung, das ist das Schöne an ihm. Aber deshalb ist er noch lange kein Dummkopf. Dieser Germain, das hätte ich sein können. Jedenfalls ist er so, wie ich war, als ich jung war, in Châteauroux, bevor ich losgezogen bin, mit 13 Jahren. Wie er habe ich alles beobachtet, habe gesehen, was passiert ist. Es ist also jemand, den ich sehr gut kenne. Er hat viel Humor und viel Liebe in sich. Schaut man sich zum Beispiel die Beziehung zu seiner Mutter an. Auch wenn er von ihr keine Liebe bekommen hat, hat er sie nie verdammt. Und dann wird er von diesem jungen Mädchen Annette geliebt. Wenn man sie zusammen sieht, scheint der Altersunterschied gar nicht zu existieren, weil er so rein ist. Und im Gegensatz zu dem, was viele denken, ist Germain eine echte Figur unserer Zeit. Für mich repräsentiert er das, was erhalten bleibt, wenn man dem entkommt, was die Gesellschaft für uns vorsieht: Schulen, die unsere Kinder normieren und naturgemäss dabei ihre Träume zerstören. Germain ist ein Aussenseiter, aber er glaubt an bestimmte Werte und liebt das Leben, auch wenn er von ihm herumgestossen wurde.

War es ein Vergnügen, mit Giselè Casadesus zu spielen?

Ein großes Vergnügen, denn ich bin in solchen Momenten Zuschauer. Es ist beachtlich und ermutigend zu sehen, wie eine Frau ihres Alters ihren Text lernt und es schafft, sich auf den Punkt zu konzentrieren. Was mich aber wirklich angezogen hat, ist ihre immer noch unglaubliche Weiblichkeit, ihr Flirten, das ich als Resultat eines schönen Lebens und einer bestimmten Art Liebe sehe, einer Hoffnung oder eines Glaubens. Jemand, der an nichts glaubt, kann nicht so altern. Gisèle glaubt an die Vögel, an die Schönheit, den Kummer, die Traurigkeit. Nicht viele Menschen haben den Mut, sich heftigen Gefühlen wie Leid auszusetzen. Und wenn ich mit ihr spiele, sehe ich all das, alle ihre Erschütterungen. An ihrer Seite bin ich frei. Freiheit bedeutet, keine Angst vor irgendetwas zu haben, genauso stark wie das Leben zu sein. In dem Moment, wo man anfängt Angst zu haben, ist es vorbei. Ich habe vor nichts Angst, vor allem nicht davor, zu existieren, im Gegensatz zu vielen Leuten, die im Angesicht des Alterns Schutz brauchen.

Und haben Sie immer noch so viel Spass dabei?

Aber ja! Weil ich so viele andere Dinge neben den Dreharbeiten mache, ist es letztlich erholsam für mich, einen Film zu machen. Und auch wenn das Kino sich verändert hat, bleiben die Mannschaft und die Leute im Grunde dieselben. Ich habe viele amerikanische Produktionen erlebt, ausgestattet mit Mega-Budget und einer riesigen Schar von Assistenten. Mir ist das zu viel. Es gibt da keinen Platz mehr für das Spontane, Natürliche. Im Grunde bin ich so wie die Figur im Film: Ich lebe in der Gegenwart. Denn der Augenblick ist schon da, man muss ihn nicht suchen. Ich zehre von der Permanenz des Gegenwärtigen, damit meine ich alles, was man erlebt: wenn man schläft, wenn man liebt, wenn du beobachtest. All das hinterlässt Spuren in deiner Erinnerung: Schmerzen, Gefühle, Töne, Farben und Gerüche, die dich nähren. Das ist der Grund, warum ich vor Beginn des Drehs überhaupt nicht an die Figur denke, die ich spielen werde, ausser wenn der Regisseur mit mir darüber spricht. In «La tête en friche» musste ich mich nicht grossartig auf Germain vorbereiten, weil das ganz einfach ein Mann ist, der die Menschen betrachtet und ihnen zuhört.

mitbuch.jpg

Aus einem Interview mit Gisèle Casadesus

Wie kam Ihre neuerliche Zusammenarbeit mit Jean Becker in «La tête en friche» zustande?

Jean rief mich an, um mir zu sagen, dass er mir ein Buch schicken würde und möchte, dass ich es lese, weil er darin eine Rolle für mich sieht. Mir hat die Lektüre sehr gefallen, vor allem wegen der jungen Umgangssprache der Autorin Marie-Sabine Roger (lacht). Aber natürlich auch wegen dieser Beziehung voller Zartheit zwischen dieser alten Dame, die ich spielen sollte, und diesem gutmütigen Bär, den Gérard Depardieu spielt. Also habe ich zugesagt. Und gleich darauf das Drehbuch erhalten. Jean folgt genau dem Buch und verleiht ihm eine sehr persönliche Note: diese Liebe zur Natur, die so ganz unverfälscht herüberkommt. Dabei lebe ich gar nicht so verbunden mit der Natur. Ich bin eine waschechte Pariserin, die immer schon im 18. Arrondissement gelebt hat! (lacht). Auch wenn ich nicht so landverliebt bin, hat mich dieser Aspekt sehr berührt. Jedenfalls hätte ich Jean auch zugesagt, ohne das Drehbuch zu kennen, weil ich ihm völlig vertraue.

Warum lässt sie sich Ihrer Meinung nach auf Germain, der Figur von Gérard Depardieu, ein?

Die Ernsthaftigkeit und die Natürlichkeit dieses Mannes berühren sie auf Anhieb. Sie wecken in ihr den Wunsch, mehr über ihn zu erfahren. Sie sieht jemanden, der enttäuscht ist, der aber gerne weiterkommen möchte, Dinge lernen, die ihm das Leben bisher nicht geben konnte.

War es kompliziert, diese Figur zu werden?

Ich habe eine Theorie, die ich von Pierre Fresnay (Filmregisseur, 1897 – 1975) übernommen habe: Man taucht nicht ein in einen Charakter, sondern der Charakter taucht in uns ein. Auch wenn ich nicht eine so gebildete Frau bin wie diese Margueritte, fiel es mir gar nicht schwer, sie in mich aufzunehmen. Ich weiss nicht, ob das Resultat überzeugend ist, aber es hat mir keine Probleme gemacht, in diese Figur einzutauchen.

Hat Ihre Freude an der Arbeit am Filmset im Lauf der Jahre zugenommen?

Ich fühle mich dort so entspannt wie nirgendwo sonst. Am Set kümmert man sich um dich, anders als am Theater. Das ist wie in einem Kokon. Im Film, um das aufzugreifen was Louis Jouvet sagte, schafft man um sich herum eine Atmosphäre, die verhindert, dass man unter Druck gerät. Man bekommt das Gefühl vermittelt, jemand sehr Wichtiger zu sein! (lacht). Man wird ständig gefragt, ob alles in Ordnung ist. Wer würde sich da beklagen? Aber darüber hinaus bin ich immer genauso hingerissen vom Spiel, davon, da zu sein, um Gefühle auszudrücken, die einem nicht gehören, die man aber als seine annimmt. Und es macht Spass, diese Gefühle im Lauf der Zeit in sich selbst aufsteigen zu fühlen.