Land of Dreams
Marc, Simin, Alan (v. l.)
Simin reist mit ihrem Bodyguard quer durchs Land, im Clinch zwischen ihrer Mission und dem Mitgefühl für diejenigen, deren Träume sie einfängt. Die USA in naher Zukunft werden von den beiden Filmemacherinnen Shirin Neshat und Shoja Azari als Land gezeichnet, in dem nicht einmal mehr das Träumen frei ist: in einer bildgewaltigen und surrealen Satire über den American Dream, mit Sheila Vand als Simin, Matt Dillon als Allan, Isabella Rossellini als Jane, William Moseley als Marc und Christopher McDonald als Blair.
«Land of Dreams» ist selbstredend ein surrealistischer Film. Doch was ist Surrealismus? Kurz gesagt: eine ab 1920 entstandene Kunstbewegung, die sich, beeinflusst durch die Psychoanalyse, zum Ziel setzt, die widersprüchlichen Erfahrungen von Traum und Wirklichkeit in einem erweiterten Bewusstsein als komplexe Überwirklichkeit, Surrealität, erfahrbar zu machen; eine Bewegung in Philosophie, Literatur, Kunst, Film; eine revolutionäre Bewegung, die gegen die unglaubwürdigen Werte der Bourgeoisie antritt; die Auffassung, dass es keine objektiv gegebene äussere Wirklichkeit gibt.
Statement von Shirin Neshat
«Land of Dreams» entstand aus einer Zusammenarbeit mit Jean-Claude Carrière bei einer Reise, die 2018 in Paris begann und bis zu seinem Tod im Januar 2021 andauerte. Der Film wurde durch unsere persönlichen Reisen als zwei iranische Einwanderer, die seit den 1970er-Jahren in den USA leben, sowie Jean-Claudes Verständnis der amerikanischen Kultur als französischer Staatsbürger, inspiriert. Die Erzählung ist daher ein Ausdruck unserer Sensibilität und Ansichten von Ausländer:innen über ein Land, das wir alle lieben und dennoch zu kritisieren wagen. Stilistisch ist der Film die Zusammenführung einer zutiefst persönlichen, visuellen und konzeptuellen Sprache mit Carrières legendärer Handschrift und dem Drehbuch von Shoja Azari mit ihrer aller Sinn für Witz, Humor und Menschlichkeit. – Im Anhang findet sich ein Interview mit Shirin Neshat, das gut in den Film einführt.
Simin auf dem Weg in die Traumwelt
Statement der Produktion
«Land of Dreams» ist nicht nur das erste englischsprachige Projekt von Shirin Neshat, sondern auch ein künstlerischer und kritischer Blick auf die Vereinigten Staaten. Es spricht die beunruhigende aktuelle gesellschaftliche Situation in Amerika an, wo ein tiefer Riss das Gefüge der Gesellschaft bedroht. Es beschwört wortgewaltig populäre amerikanische Themen wie «The American Dream», strotzt gleichzeitig vor visuellen und erzählerischen Referenzen an den Meister des surrealen Kinos, Luis Buñuel. Vor allem seine Filme aus den 1970er-Jahren boten Shirin reichlich Inspiration für ihre Geschichte. So ist es kein Zufall, dass «Land of Dreams» auch ihre erste Zusammenarbeit mit Buñuels langjährigem Drehbuchautor, dem verstorbenen Oscar-Preisträger Jean-Claude Carrière wurde.
In «Land of Dreams» wirft Shirin das filmische Schlaglicht auf eine besonders faszinierende Gesellschaftsschicht, die es unserer Meinung nach mehr als verdient hat, dass ihre Geschichte erzählt wird. Es ist ein Teil der amerikanischen Bevölkerung, der sich von der Elite der West- und der Ostküste vergessen fühlt, aber durch und durch in der populistischen Politik Amerikas von heute (wieder) Bedeutung erlangt hat. Ähnlich faszinierend ist, wie Shirins Erzählung gängige Stereotypen erst aufbaut und dann niederreisst. So ist bekannt, dass es im Mittleren Westen, wo der Film spielt, keine Wüsten gibt. Dennoch bedient sich Shirin eben jener ikonischen Bilder, die durch die Medien zum Synonym für Amerika geworden sind.
Die Protagonist:innen des Films
Simin beim Rollenspiel
Simin ist eine junge iranische Frau, die unter einem theokratischen, autoritären Regime aufgewachsen ist. Sie floh aus dem Iran, nachdem ihr Vater, ein ehemaliger Revolutionär, von der iranischen Regierung hingerichtet worden war. Simin fühlt sich in Amerika fremd, geniesst aber ihre Freiheit und Einsamkeit. Sie nimmt eine Stelle als Volkszählungshelferin im United States Census Bureau an, das die Träume der Bürger:innen sammelt. Als Simin beginnt, ihre Proband:innen zu befragen, wird sie von deren Träumen gefangen genommen. Sie fotografiert ihre Gesprächspartner:innen, gibt sie heimlich in Farsi als ihr Statement aus und postet die Clips in den sozialen Medien. Dort schart sie eine grosse iranische Fangemeinde um sich. Seltsam, geheimnisvoll, obsessiv, eine Aussenseiterin sowohl in der iranischen als auch in der amerikanischen Gemeinschaft, ist es letztlich ihre künstlerische Reise, die sie vor dem Wahnsinn bewahrt und ihr ein Gefühl von menschlicher Verbundenheit, Frieden und Resignation gibt.
Simins zufälliger Freund Marc
Mark, anfangs dreissig, ist ein verträumter, gut aussehender, naiver Amerikaner, ein selbstbewusster, liberaler Mensch mit einer politisch korrekten Weltanschauung. Er hat beschlossen, offen und frei als Dichter zu leben, hat noch nie einen richtigen Job gehabt und lebt bei seinen Eltern. Er ist ein Herumtreiber, ein Entdecker, der ziellos von Ort zu Ort zieht. Er fühlt sich oft unzulänglich und verbirgt seine Frustration unter dem Deckmantel der Romantik und der Liebe zur Menschheit. Mark lebt in seinem Kopf und hat auf jede Frage und jede Situation eine Antwort, ist aber verletzlich und zerbrechlich, sehnt sich nach der grossen Welt, während er in einer amerikanischen Kleinstadt lebt.
Der Simin zugeteilte Bodyguard Alan
Alan ist ein typisch amerikanischer Mann um die Fünfzig. Er ist muskulös, etwas imposant und machohaft, aber auch pragmatisch, sachlich, witzig, schnell und hat einen zynischen und ironischen Sinn für Humor. Er ist zielorientiert, hat einen klaren Standpunkt und eine ausgeprägte Lebensphilosophie. Im Gegensatz zu seiner Gleichgültigkeit und sarkastischen Art ist er in bestimmten Situationen einfühlsam und fürsorglich. Alan ist ein moderner Cowboy, seine Beziehung zu seinem Motorrad ist ähnlich wie die eines Cowboys zu seinem Pferd. Er liebt die Frauen, den Alkohol und das Glücksspiel, lebt sein Leben von Tag zu Tag und stichelt gegen jene, die sich selbst zu ernst nehmen.
Nancy ist eine überspannte Chefin im futuristischen, privatisierten US-Census Bureau. Sie ist eine karrierebewusste, berechnende und ehrgeizige Frau, die sich in der Wahrnehmung von Mission und Macht verstrickt. Sie hat ein gutes Gespür für Menschen und ist eine effektive Managerin. Ihr Charakter und Stil verkörpern das, wofür das Census Bureau steht: eine Verschmelzung zwischen utopischen technologischen Unternehmensvisionen und veralteten bürokratischen Systemen der Regierung. Wenn sie mit einem menschlichen moralischen Dilemma und einer verinnerlichten Unternehmensvision konfrontiert wird, hat Nancy keine Mühe, sich auf die Seite des Bösen zu schlagen.
Der evangelikale Sektenführer Blair
Blair ist ein charismatischer evangelikaler Sektenguru. Er behauptet, Gott spreche direkt durch ihn. In der Überzeugung, dass seine Botschaft die von Jesus selbst ist, hat Blair eine Kirche gebaut, in der er heidnische und christliche Symbolik mit grosser Wirkung verbindet. Er setzt Musik, Tanz und Rituale ein, um seine Anhänger in eine emotionale Stimmung zu versetzen. Blairs moralische Haltung ist hochpolitisch, und seine Weltanschauung ein ständiger Kampf zwischen Gut und Böse.
Zum Schlussbild des Films
Aus einem Interview von Paula Scheidt mit Shirin Neshat im Magazin No 45 - 2022
Die Protagonistin kniet in der Wüste zwischen vielen Fotos. Es sind Bilder ihrer Familie und Porträts fremder Menschen, spiralförmig im Sand angeordnet.
Ich möchte dazu sagen, dass jeder einzelne von uns ein winziger Teil ist vom Gefüge der Menschheit. Wir gehören alle zusammen. Träume überschreiten Grenzen, sagt man. Aber auch Gefühle und menschliches Leid überschreiten Grenzen. Wir müssen uns umeinander kümmern, denn wir leben alle auf demselben Planeten.
Interview mit und Anmerkungen zu Shirin Neshat
Kulturplatz: Revolution im Iran vom 9. November, 22.25 auf SRF 1
Regie: Shirin Neshat und Shoja Azari, Produktion: 2021, Länge: 113 min, Verleih: Cineworx