Les plages d'Agnès

Agnès Varda : La jeune grand-mère - Autobiografie der grossen alten Dame des französischen Films

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Zeitgleich mit Godard, Truffaut, Malle, Rivette, Chabrol und andern Filmemachern startete Agnès Varda als einzige Frau 1961 mit «Cléo de 5 à 7» die Nouvelle Vague, die Erneuerungswelle des französischen Films. Der Film handelt, in Realzeit ablaufend, von einer jungen Frau, die zwei Stunden lang auf ihre Krebsdiagnose wartet: sich ängstigend, hoffend, niedergeschlagen, zuversichtlich, resigniert, entschlossen. Mit diesem eindringlichen und gleichzeitig zärtlichen Psychogramm öffnet die Regisseurin einen Fächer möglicher menschlicher Gefühlsregungen, in dem wir uns alle irgendwie wiedererkennen. Wahrscheinlich ist diese Art des Filmens das Zeichen dafür, dass ein künstlerisches Werk zu einem Kunstwerk wird.

«Es ist eine lustige Idee, sich ins Szene zu setzen und einen autobiografischen Film zu drehen, wenn man bald achtzig ist. Diese Idee wuchs eines Tages in meinem Kopf, als ich am Ufer von Noirmoutier realisierte, wie verschiedene Strände mein Leben geprägt haben… Viele alten Menschen haben das Bedürfnis, ihr Leben zu erzählen. Ich auch», meint Varda. Von diesem, ihrem Urbedürfnis geht sie aus, worauf wir mit unserem Bedürfnis antworten, solchen Lebensgeschichten auch zuzuhören oder auch zu lauschen. Geschichten erzählen und hören, kann die Gesellschaft zusammenhalten und vor dem Auseinanderbrechen bewahren, Leben erhaltende und erschaffende Werte verleihen.

Spiegel und Strände

Der Film beginnt damit, wie eine Gruppe Menschen im Sand des Strandes Spiegel aufstellen, worin sich Agnès Varda, ihre Mitarbeitenden und die Umgebung spiegeln. Das habe nichts mit Eitelkeit zu tun, meint sie, auch Rembrandt habe Spiegel verwendet. Spiegel senden ein Bild zurück, sie reflektieren. Davon spricht man ja auch, wenn es ums Denken geht. Am Anfang braucht sie reale Spiegel, damit klar wird, was sie will. Dann lässt sie diese weg, und wir verstehen, dass alles im Film Reflexion ist: ihre Begegnung mit den einfachen Leuten und den Künstlern, mit ihrem Mann Jacques Demy und ihrer Familie. Alles, was zu sehen und zu hören ist, wird zur Reflexion unserer Welt, zur Reflexion über unsere Welt.

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Weder Meere, noch Seen, noch Flüsse sind es, sondern Strände, die sie ihr Leben lang begleitet haben und immer noch begleiten, von denen ihr Inneres erfüllt zu sein scheint. Von Stränden handelt der Film: den Stränden ihrer belgischen Heimat, wo sie aufgewachsen, den Stränden der südfranzösischen Hafenstadt Sète, wohin sie im Krieg geflohen ist, den Stränden Kaliforniens, wo sie mit ihrem Partner einst weilte, dem «Strand», den sie sich mit Sand vor ihrem Studio in Paris aufgebaut hatte, und dem «Strand» an der Seine, wo sie ihr Boot wässerte, bis zu ihrer Installation «La cabane de plage» an der ArtBasel.  Was bedeuten Strände aber zutiefst, für sie, für uns? Varda gibt ihre Antworten im Film, wir müssen unsere Antworten noch suchen. (Ein Film ist ein Werk, das zum einen vom Filmenden, zum andern vom Publikum realisiert wird.) Strände sind, verallgemeinert und auf einen Nenner gebracht, Orte, von wo man ausfährt, und Orte, wo man ankommt – und dazwischen findet das Leben statt, dasjenige von Agnès Varda und dasjenige von uns.

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Seelenlandschaften einer kreativen Frau

Die filmische Collage, als was man das Selbstporträts wohl am besten beschreibt, besteht aus Seelenlandschaften von faszinierendem Reichtum, mit Tiefen und Weiten, wie sie im Allgemeinen nur alte Mensch zu zeichnen, malen, beschreiben vermögen. Sie bestehen bei ihr aus Träumen und Erinnerungen, aus Fotos, Filmen, Melodien sowie aus eigenen und fremden Berichten und Kommentaren. Mit all dem bastelt sie sich unbeschwert von Zwängen, ihre Identität zusammen.

Film sei Kooperation plus Dilettantismus, meinte sie und reiht sich damit in die Gruppe jener ein, die ihr Handwerk nicht akademisch an Hochschulen gelernt haben, sondern mit Leidenschaft, also Leiden und Schaffen, mit andern zusammen zu eigenständigen Künstlerpersönlichkeiten heranreifen. In bester Gesellschaft mit Alain Resnais, 88, der in «Les herbes folles» die Gräser der menschlichen Sehnsüchte in den Himmel spriessen lässt, mit Jean-Luc Godards, 80, der sich in seinem «Film socialisme» um jegliche ästhetische Konvention foutiert, lebt und arbeitet Agnès Varda, 82, «solitaire» und «solidaire»: Als  Frau in der immer noch von Männern dominierten Filmwelt. Eingebracht hat sie ihr Frau-Sein und ihren Feminismus nie doktrinär und missionarisch, sondern immer sinnlich erlebbar.

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«Ich sehe und mache gerne Filme, die Menschen erwärmen, ihnen Zusammenhänge klar machen, sie aufwecken und glücklich machen», meint die grosse alte Dame des französischen Kinos. Und das tut sie auf eine wunderbare und verführerische Art und Weise. «Les plages d’Agnès» ist heilsam wie eine Medizin, tut der Seele und dem Geist gut wie ein Bad – selbst wenn man (noch) nicht alle ihrer früheren Filme, die gegenwärtig im Stadtkino Basel laufen, gesehen hat.

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www.agorafilms.net

www.artbasel.com

www.stadtkinobasel.ch