La hija de todas las rabias

Im Müll der Welt überleben: Nicaragua. Maria und ihre Mutter Lilibeth leben in prekären Umständen am Rand der grössten Müllhalde des Landes. Der Spielfilm «La hija de todas las rabias» von Laura Baumeister erzählt die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung und eine Parabel über das Leben im Müll. Ab 6. Juli im Kino
La hija de todas las rabias

Maria auf dem Weg

Poetisch und zugleich kritisch ist der Debütfilm «La hija de todas las rabias» (Die Tochter aller Wut) der nicaraguanischen Regisseurin Laura Baumeister mit der 11-jährigen Maria (Ara Alejandra Medal) und ihrer Mutter Lilibeth (Virginia Sevilla), die in der Nähe der grössten Mülldeponie des Landes wohnen und dort ihr Leben in einer katastrophalen Welt fristen. Baumeisters erster Langspielfilm wurde, nach den in Mexiko gedrehten kurzen, als erster in Nicaragua von einer Frau realisierte Film weltweit an Festivals ausgezeichnet.

Maria erlebt eine alles andere als menschenwürdige Kindheit. Diese psychologische Extremsituation erlebbar gemacht, lässt erfahren, was Kindheit grundsätzlich ist oder sein kann. Ihre Mutter lebt in einem brutalen, von Krieg und Korruption, von Kirche und Politik geprägten Umfeld. Dies zeigt, wie es einem grossen Teil der Menschheit geht. Dass die Handlung in surreale Höhen und mythologische Tiefen vordringt, wo die Grenze zwischen Tier und Mensch verschwindet, verleiht ihr etwas Entgrenztes, Offenes. Und mit den kaum überschaubaren Müllhalden zeigt der Film, wie die zerstörte Ökologie, wie die zerstörte Wirtschaft, auch das Leben der Menschen mehr und mehr zerstört.

All dies – das Aufwachsen Marias, das Kämpfen Lilibeths, die Umweltzerstörung – erfordert unsere Empathie. Der Film behandelt die Resilienz, meint die Regisseurin: «Wir reisen zu unserer inneren Stärke, in unsere fantastische Welt.» Er erfüllt damit eine Aufgabe, der die Kunst wohl verpflichtet ist, die für uns aber auch zur Gabe werden kann. Die Welt des ökologischen Mülls stürzt die Menschen, so möchte ich den Film zusammenfassen, in den menschlichen Müll.

Wir Journalisten erhalten von den Verleihern schriftliche Unterlagen zu den Filmen, die wir oft mit etwas andern Worten in unsern Rezensionen wiedergegeben. Heute will ich die mir vorliegenden Texte nicht einfach nachbeten, sondern gebe Stefanie Rusterholz von trigon-film, die den Film gut kennt und einen Text verfasst hat, das Wort:

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Mutter Lilibeth mit Tochter Maria


Mutter und Tochter


Die 11-jährige Maria lebt mit ihrer Mutter Lilibeth im Slum in der Nähe der grössten Mülldeponie Nicaraguas. Es ist ein bedrückender Ort, der «La Chureca» genannt wird. Ihr Leben ist geprägt von Armut und Gewalt. Doch Mutter und Tochter haben eine innige Beziehung. Sie versuchen, sich mit Recyceln von Metallabfällen über Wasser zu halten. Ihre Zukunft hängt in diesen Tagen vom Verkauf eines Wurfs reinrassiger Welpen an einen örtlichen Gangster ab. Als das Geschäft scheitert, muss Mutter Lilibeth alle Hebel in Bewegung setzen, um eine Arbeit zu finden. Sie setzt Maria in einem Recyclingzentrum ab, wo sie zusammen mit andern Kindern arbeiten soll, bis die Mutter sie wieder abholt. Doch die Tage vergehen und Lilibeth kehrt nicht zurück. Maria fühlt sich verloren, verwirrt und wütend. Sie freundet sich mit Tadeo an, einem fantasievollen Jungen, der entschlossen ist, ihr zu helfen und sie wieder mit ihrer Mutter zu vereinen.

«La hija de todas las rabias» ist der erste Spielfilm der 1983 in Nicaragua geborenen Laura Baumeister; das Debüt ist gleichzeitig eine Seltenheit in der nicaraguanischen Filmlandschaft. Staatspräsident José Daniel Ortega Saavedra führt Nicaragua mit diktatorischer Hand und besetzt wichtige Stellen im Staat mit Familienangehörigen, die den Reichtum des Landes unter sich aufteilen. Das Land ist geprägt von Armut und Korruption. Es gibt keine Filmindustrie und keine öffentlichen Gelder für unabhängiges Filmschaffen. «La hija de todas las rabias» ist erst die fünfte Produktion der letzten dreissig Jahre und der erste Film von einer Frau, die in Nicaragua aufgewachsen ist.

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Tadeo und Maria im Müll


Kinder der Müllhalde


Inspiriert zum Film wurde Laura Baumeister von Kindern, die in der real existierenden Müllhalde «La Chureca» leben. Als Teenager gab sie diesen Kindern oft Nachhilfe im Schreiben und Lesen. Sie war beeindruckt von ihnen, weil sie trotz schwerer Arbeit und Armut viel Witz, Kreativität und Fantasie bewiesen. Da wurde ihr klar, wie viel Macht die eigene Fantasie hat und wie viel Kraft man aus ihr schöpfen kann. Fantasie und Imagination können in dieser Welt überlebenswichtig sein. Dieser Gedanke hat sie bis ins Erwachsenenalter geprägt: Sie wollte unbedingt irgendwann einen Film darüber machen.

«La hija de todas las rabias» wird hauptsächlich aus der Sicht von Maria erzählt. Sie ist der Erwachsenenwelt ausgeliefert. Und dabei empfindet sie auch Emotionen, die sie als Kind noch nicht einordnen kann. In einer bemerkenswerten Szene hämmert Maria vergeblich gegen die Türen der Recyclinganlage, ohne zu begreifen, dass sie nur zu ihrem Besten dort ist. Marias innere Wut steigt langsam an die Oberfläche, wie es der Titel des Films ausdrückt; Maria empfindet nicht nur Wut, sie ist auch das Opfer der Wut anderer. In einem von Korruption geprägten Land muss jeder und jede für sich selber schauen. Gespielt wird Maria von der Laiendarstellerin Ara Alejandra Medal, die das erste Mal vor der Kamera steht. Laura Baumeister hat 300 Mädchen in Nicaragua vorspielen lassen und so Ara Alejandra Medal gefunden, die eine unglaubliche Präsenz hat und die Rolle der Maria eindrücklich verkörpert.


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Ohne Mutter auf dem Weg


Surreale Erzählelemente


In «La hija de todas las rabias» sind auch Stilelemente des magischen Realismus zu erkennen, womit der Film an die Tradition des lateinamerikanischen Kinos der 1980er- und 90er-Jahre anknüpft. Die Geschichten erzählen meist vom Alltag kleiner Leute, enthalten dabei aber Elemente oder ganze Handlungsstränge, die über die gängigen Vorstellungen von Realismus hinausgehen und surreale Impulse in die Erzählung hineintragen. Im Gegensatz zum nordwestlichen Kino, in dem solche Elemente formal signalisiert oder inhaltlich, etwa als Zauberwelt, gerechtfertigt werden, gehen diese Elemente im magischen Realismus organisch aus der Geschichte hervor.

Laura Baumeister nutzt in ihrem Debüt solche surrealen Elemente und bettet sie virtuos in die Handlung ein. Durch die Verfremdung bekommen der Zuschauer und die Zuschauerin eine neue Sichtweise auf unsere Welt, gleichzeitig erlaubt sie der Filmemacherin, Missstände anzusprechen, ohne diese direkt zu zeigen. Laura Baumeister hat eine spannende Parabel geschaffen, die auf intelligente Weise eine Mutter-Tochter Beziehung erforscht und gleichzeitig Themen wie Ökologie und Armut in Nicaragua aufgreift.

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Mit ihrem geliebten Welpen

Zwei Nachbemerkungen


Dass es solchen, wie im Film gezeigten, Müll nur in Nicaragua und andern fernen Ländern gibt, also weit weg von uns und folglich uns nicht betreffend, wird in einem neuen Dokumentarfilm überzeugend widerlegt: «Matter out of Place» von Nikolaus Geyrhalters macht dies unpolemisch, doch grundsätzlich und radikal. Er zeigt eindrücklich, wie auf unserem Planeten alles mit allem verbunden ist – und wir uns nicht aus dem Verbund und damit der Verantwortung schleichen dürfen. Denn wir in der Ersten Welt sind an den Müllbergen der Dritten Welt wesentlich beteiligt, zum Beispiel mit dem Export unseres Abfalls nach Afrika.

Die Qualität von «La hija de todas las rabias» ist für mich, dass er uns mit seinen Bildern emotional trifft, die Informationen in Handlungen umsetzt und uns so zum Denken, vielleicht sogar zum Handeln anregt. Dies gelingt Paula Baumeister, da sie nicht nur emotional und autobiografisch an den Stoff herangeht, sondern auch als professionelle Soziologin. – Wer von der Vorgeschichte und den Hintergründen dieser Produktion und vom gesellschaftlichen und politischen Leben in Nicaragua erfahren möchte, sei das Interview im Anhang empfohlen.

Interview mit Laura Baumeister, von Raphael Chevalley


Regie: Laura Baumeister, Produktion: 2022, Länge: 91 min, Verleih: trigon-film