Matter out of Place

Müll, unser Fussabdruck: Vom Abfall an den Stränden, auf den Bergen, am Meeresgrund und unter der Erde handelt Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm «Matter out of Place», über das erdumspannende Übel und die Sisyphos-Arbeit dagegen, mit eindrücklichen Bildern und einer Langsamkeit, die herausfordert. Ab 23. März im Kino
Matter out of Place

Was wie unberührte Natur ausgesehen hat, ist schliesslich Müll

Mit Geyrhalters unverkennbarer Bildsprache aus präzis komponierten langen Aufnahmen folgen wir den Abfallbergen quer durch unsern Planeten: von den Berggipfeln der Schweiz über die Küsten Griechenlands und Albaniens, hinein in eine österreichische Müllverbrennungsanlage, weiter nach Nepal und auf die Malediven, bis in die Wüste Nevada. – Die Langsamkeit, welche diesen österreichischen Dokumentarfilm auszeichnet, erinnert an die Langsamkeit des Spielfilms «Drii Winter» des Schweizers Michael Koch, ist vergleichbar und doch anders.

Mitten auf einem grünen Feld hebt ein Bagger ein grosses Loch aus und bringt eine Menge Müll zum Vorschein: Metall, Plastik, Altglas, Autoreifen. An anderen Orten, die auf den ersten Blick unberührt scheinen, bringen Taucher säckeweise von Algen überwucherte Abfälle vom Meeresgrund an die Oberfläche. Sichtbar häuft sich der Müll an Stränden, wo sich Freiwillige, wie die «Volunteers for a Clean Homeland», durch die Massen von angespültem Unrat kämpfen. Am Rande einer Grossstadt plagt sich eine lange Schlange überladener Lkws über schlammige Bergstrassen, um die aufgeladene Fracht auf einen gigantischen Müllberg zu schütten. In einer modernen Müllverbrennungsanlage verschwinden solche Berge in gewaltigen Schächten, um zerhackt, verbrannt oder weiter deponiert zu werden. An prestigeträchtigen Destinationen ist man bemüht, den angehäuften Müll so gut wie möglich vor der Kundschaft zu verstecken. Mitarbeiter eines Luxusresorts sind rund um die Uhr damit beschäftigt, die langen weissen Sandstrände makellos erscheinen zu lassen. Hoch in den Bergen in einem Schweizer Skigebiet wird ein Müllwagen, der zuvor die Abfälle der Gäste beseitigt hat, von einer Gondel abgeseilt. Und in der Wüste sammeln Freiwillige nach einem Festival auch die winzigsten Rückstände auf und kehren mit Besen die scheinbar unendliche Sandlandschaft.

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Die alltägliche Sisyphos-Aufgabe

Der Film «Matter out of Place» zeigt auf; die Auseinandersetzung damit haben wir zu leisten

Unweigerlich stellt sich die grosse Frage: Wohin mit all dem Müll? «Matter out of Place» ist ein Film über die menschengemachten Abfälle, die uns permanent umgeben. Auf seiner Reise zeigt Nikolaus Geyrhalter den schier endlosen Kampf der Menschen, dieser Unmengen, die wir tagtäglich hinterlassen, Herr zu werden: Sammeln, zerkleinern, verbrennen, vergraben, die Sisyphos-Arbeit, mit der das sich klammheimlich und gleichzeitig offensichtlich auftürmende globale Müllproblem gelöst werden soll.

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Eine weitere Art des Entsorgens

Ausschnitte aus einem Interview mit Nikolaus Geyrhalter

(integral im Anhang)

Von der Recherche zu den Kameraeinstellungen

Der Filmtitel «Matter out of Place» bezieht sich auf eine Definition. Was verstehen Sie unter diesem Begriff? Wir haben diesen Begriff vom «Burning Man», einem Festival in der Wüste von Nevada, wo wir auch gedreht haben, übernommen. Dort wird alles, was nach dem Event übrig bleibt, das muss nicht nur Müll sein, sondern alles, was nicht «native to the environment» ist, also vorher nicht da war, als «Matter out of Place» bezeichnet. Alles, was vom Menschen hierher kommt, gehört nicht dahin, muss wieder weg. Dafür steht das penible Saubermachen, das Teil der DNA von «Burning Man» ist, und mit dem auch der Film endet. «Matter out of Place» ist auch ein in der Outdoor-Szene gebräuchlicher Begriff, wenn man irgendwo in der Natur sein Zelt aufschlägt, ist alles, was man hinterlässt bzw. vorher nicht da war, «Matter out of Place».

Hat Sie Ihre Recherche auch mit der Geschichte des Umgangs mit Müll konfrontiert? Der Müll ist ein Symbol dafür, wie sich die Menschheit entwickelt, nämlich viel langsamer, als es der technologische Fortschritt verlangen würde. Mit vielem, was heute möglich ist, können wir noch nicht umgehen. Den Abfall aus dem Fenster werfen und warten, bis er verrottet, funktioniert nicht mehr. Doch viel weiter sind wir nicht. Dass jedes Stückchen Müll, das wir aktuell verursachen, sinnvoll entsorgt werden muss, müssen wir erst noch verinnerlichen. Diesen Evolutionsschritt haben wir noch nicht gemacht.

Lange Einstellungen bestimmen Ihre Filme. Es gibt ein paar ungewöhnlich lange Einstellungen, weil sich beim Drehen herausgestellt hat, dass sie sich ständig weiterentwickeln und damit eine Dynamik entsteht, die wir nicht kürzen wollten. Dort haben wir uns entschieden, sie in voller Länge auszuspielen, weil sie als Plansequenz eine Reihe von Überraschungen in sich bergen, und natürlich auch weil die Müllbewältigung ein ewiger Prozess ist. Man muss es auch einmal aushalten, sich ein paar Minuten mit so einem Bild auseinanderzusetzen. Aber abgesehen davon ist der Schnittrhythmus ähnlich wie bei meinen anderen Filmen. Meine Art, Filme zu drehen, gibt einen ruhigen Atem schon vor.

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Aufräumen und mitnehmen, was der Mensch liegenliess

Das «Burning Man Festival» in der Wüste von Nevada

Sie haben das «Burning Man Festival» in der Wüste von Nevada erwähnt. Mit eindrucksvollen, manchmal geradezu surreal anmutenden Bildern davon endet «Matter out of Place». Wie wurde dieser Event Teil Ihres Films? Es gehört zum Ethos des Festivals, dass eine vollkommen saubere Wüste hinterlassen wird und aufgrund behördlicher Auflagen auch hinterlassen werden muss. Ich glaube, Sie werden niemanden finden, der genau beschreiben kann, was «Burning Man» wirklich ist. Es ist die Zusammenkunft sehr vieler Menschen in der Wüste, am Ende wird die von einem Künstler gestaltete Skulptur eines Mannes rituell verbrannt. So ökologisch das Aufräumen danach sein mag, so energieintensiv war das Event für die fast 80.000 Menschen. «Burning Man» steht für ein alternatives Amerika, wo eine Stimmung von «Yes, we Can» mitschwingt.


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Mit «Terrasophie» die Wahrnehmung des Films weiterdenken


Nikolaus Geyrhalters Film «Matter out of Place» ist nüchtern, sachlich, phänomenologisch. Schlüsse zieht er nicht, Deutungen überlässt er uns Kinogängerinnen und Kinogänger. Indem wir das Wahrgenommene in Worte zu fassen versuchen, beginnt unser Denken mit der Auseinandersetzung über das Gesehene und Gehörte. Dazu gebe ich Ihnen einen persönlichen Tipp: Ein dünnes, gescheites, kluges Büchlein des Philosophen, Poeten, Journalisten und ehemaligen Politikers Andreas Iten kann uns beim Weiterdenken, so meine ich, helfen. Es heisst «Terrasophie», ist 2020 mit ISBN 978-3-99018-549-0 erschienen.

«Terrasophie» plädiert für ein neues Naturverständnis. In einer Zeit des Umbruchs und des fortschreitenden Klimawandels rückt die Natur ins Zentrum des menschlichen Forschens und Handelns. Der Mensch muss sein Verhalten der Natur gegenüber ändern. Der Essay beschreibt den modernen Heiden, der von metaphysischen Überhöhungen absieht und die Natur in ihrer Ganzheit in die Mitte seiner Gedanken stellt. Die Natur wird zur Metaphysik seines Denkens. Die Natur gibt in ihrem Bestreben, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, das Mass vor, wie der Mensch ausgeglichen und sinnvoll leben kann. Sie zeigt ihm auf, dass er selbst Natur ist, und wenn er der Natur Schaden zufügt, sich selbst schädigt. Es geht darum, ein achtsames Verhältnis zur Natur zu gewinnen. – Vielleicht brauchen wir, so frage auch ich mich, anstelle einer Theosophie oder einer Philosophie eine Terrasophie.

Und nochmals ein aktueller, weiterführender Hinweis: Nina Kunz: Die besten Seiten der Katastrophe. Sind wir noch zu retten? Und was sollen wir tun? Diese zehn Bücher über die Klimakrise geben Antworten. Das Magazin, Nummer 9, 2023, Seiten 22 – 28.

Interview mit Nikolaus Geyrhalter


Regie: Nikolaus Geyrhalter, Produktion: 2022, Länge: 105 min, Verleih: Frenetic