Mother Mara

Vom Zusammenbruch zur Selbstfindung: Mara, eine Anwältin, wird durch den Tod ihres Sohnes aus ihrem eigenen Leben gerissen und macht sich anschliessend auf den schwierigen Weg durch die Welt des Todes und der Liebe zu einem neuen Frausein. Bildstark und sinnvoll schafft Mirjana Karanović dies in ihrem zweiten Film «Mother Mara» als Regisseurin und als Hauptdarstellerin.
Mother Mara

 

Die Protagonistin und Regisseurin

 

Mara (Mirjana Karanović), eine erfolgreiche Anwältin und alleinerziehende Mutter in Belgrad, wird durch den überraschenden Tod ihres 20-jährigen Sohnes aus dem Leben gerissen. Sie stürzt sich in die Arbeit und lässt den Emotionen keinen Raum. Erst in der Begegnung mit dem Fitnesstrainer Milan (Vučić Perović), einem engen Freund ihres Sohnes, gelingt es ihr, sich langsam zu öffnen. Über ihre Liebschaft mit ihm lernt sie ihren Sohn neu kennen, was ihr hilft, endlich trauern zu können und einen Weg zurück ins Leben und in die Liebe zu finden. «Mother Mara» ist ein bildstarkes und tiefgründiges Seelendrama über weibliche Sehnsucht, nach dem Drehbuch und in der Regie von Mirjana Karanović, die auch die Hauptrolle grossartig spielt.

 

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Auf der Suche nach der Welt ihres Sohnes

 

Mirjana Karanović: Regie, Drehbuch und Hauptrolle

Die serbische Schauspielerin Mirjana Karanović ist bekannt für hochgelobte Rollen in Filmen des ehemaligen Jugoslawien. 1980 gab sie ihr Debüt in «Petrijas Kranz» von Srđan Karanović. Weltweit berühmt wurde sie durch die Hauptrolle in «Papa ist auf Dienstreise» von Emir Kusturica, der 1985 in Cannes die Palme d’Or gewann. Eine ihrer erinnerungswürdigsten Rollen ist Esma in «Grbavica» von Jasmila Žbanić, der 2006 an der Berlinale den Goldenen Bären erhielt. Für diese Rolle erhielt sie nebst zahlreichen Auszeichnungen eine Nominierung für den Europäischen Filmpreis. Im selben Jahr spielte sie die Hauptrolle in «Das Fräulein» von Andrea Štaka, welcher den Pardo d’Oro am Locarno Film Festival und das Heart of Sarajevo am Sarajevo Film Festival gewann. Im Jahr 2008 wurde sie mit dem Winning Freedom Award geehrt, eine Auszeichnung, die an Frauen verliehen wird, die sich in ihren Werken für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Toleranz in der Gesellschaft einsetzen.

 

Ihr Regiedebüt wagte sie mit 50 Jahren, und dies mit Erfolg. Sie begann 2016 mit «A Good Wife» auf dem renommierten Sundance-Festival. Der Film wurde auf über vierzig Festivals gezeigt. «Mother Mara» (2024), ihr zweiter Film, wurde nach der Weltpremiere am Sarajevo Film Festival auch am Zurich Film Festival im internationalen Spielfilmwettbewerb in ihrer Anwesenheit gezeigt.

 

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Milan und Mara

 

Hohe Schule des Frauenkinos

 

Mirjana Karanović gelingt es in ihrem Psychodrama, zwei Welten typisch und exemplarisch zu zeigen: die emotionslose Kühle in der teuren Designer-Business-Welt und Maras Luxuswohnung auf der einen Seite, auf der anderen die brodelnde, unvorhersehbare, lebhafte und oft schmutzige Welt der Menschen, die um ihr Überleben und ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen müssen. So entstand ein eindrücklicher und analysierender Film, der visuell und stilistisch die Gesellschaft und die Stadt abbildet, wie sie zwischen reich und arm aufgeteilt sind: zwischen der Elite und der Popkultur, der Welt der Erwachsenen und der Jugendlichen, den Mächtigen und den gewöhnlichen Menschen. Gerade in dieser Dualität erhält der serbische Film eine allgemeingültige Dimension.

 

Dieser Kontrast wird in der Art und Weise betont, wie die Kamera von Igor Marović den Figuren und Räumen folgt, in denen die Geschichte spielt. Maras Räumlichkeiten, ihre Wohnung, Kanzlei, ihr Restaurant sind hoch ästhetisierte Räume; vom Design erinnern sie an Einrichtungsmagazine: mit viel Atmosphäre, hauptsächlich statischen Einstellungen auf der Breitleinwand, in Grautönen oder dunkelblau, dunkelrot und anderen gedeckten Farben. Milans Welt, die Welt der Party-Boote, Flussufer und der Stadt, ist dynamisch, voller Farben, unordentlich und chaotisch, mit einer Kamera, die ständig in Bewegung ist, wo ein Grossteil der Einstellungen mit Handkamera gefilmt ist. Diese andere Welt nimmt langsam Einfluss auf die Ästhetik von Maras geordneter und sterilen Welt und auf die Dynamik der Einstellungen ihrer «Räumlichkeiten», alles unterstützt durch die Musik von Ephrem Lüchinger.

 

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Bei Mara daheim

 

Gedanken der Regisseurin

 

«Mother Mara» ist eine persönliche Geschichte: Zwar ist es keine Geschichte aus meinem Leben, aber dennoch über mich. Alles begann, als ich vor einigen Jahren als Regisseurin und Schauspielerin an einem Text der jungen bosnischen Autorin Tanja Šljivar arbeitete. Die Frauenfiguren in jenem Stück stellen die verschiedenen Seiten des weiblichen Wesens dar, vom Äusseren, Sichtbaren, bis zu tief verborgenen und verdrängten Schichten. Das Suchen und Aufdecken dieser Schichten war eine Reise in die ferne Vergangenheit der Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. In ihren Geschichten erkannte ich meine eigenen Emotionen, Ängste und Sehnsüchte. Das Drehbuch ist vom Theatertext inspiriert.

 

Eine untypische Protagonistin: Mara ist als Protagonistin eher untypisch für ein ehemals sozialistisches Land, das sich in der Wandlung zu einem neuen Wirtschaftssystem befindet. Sie hat Geld und Erfolg. Dadurch unterscheidet sie sich von vielen Frauen, die unter die Räder dieser Wandlung gekommen sind und dadurch die lange «Tradition» der Opferrolle in der Geschichte der Frauen auf dem Balkan fortsetzen. Hierzulande wird das Heldentum der Frauen an der Kraft gemessen, mit der sie ihre unzähligen grossen und kleinen Verluste würdevoll ertragen. Doch diese Würde stellt eigentlich nur ein demutsvolles Hinnehmen des Schicksals, ein Ertragen, Schweigen und Aufgeben dar. Deshalb beginnt meine Geschichte auch mit einem Verlust.

 

Sex als Flucht: Ihr Verhältnis mit dem jungen Milan ist zu Beginn ohne jegliche Nähe. Es scheint, als wolle sie durch den Sex die Kontrolle über ihr Leben erlangen und einen Raum schaffen, in dem niemand sie bemitleiden oder ihr Hilfe anbieten wird. Sex ist eine Flucht vor der Realität, auf dieselbe Weise, wie andere zu Alkohol oder Drogen greifen, um dem Trauma in ihrem Leben nicht begegnen zu müssen. Obwohl sie und Milan eine Beziehung ohne jegliche emotionale Verpflichtung aufrechterhalten wollen, kommt diese dennoch zustande. Zu Beginn geschieht dies durch ganz nebensächliche Aussagen, später entwickelt sich zwischen ihnen ein Verhältnis und sie öffnen sich immer mehr und entdecken sich gegenseitig. Es entwickelt sich eine Beziehung, in der Sex nicht mehr die einzige Bindung zwischen ihnen ist. Sie werden zu Freunden, Liebhabern oder Weggefährten.

 

Gehören Leidenschaft und Sehnsucht der Jugend? Ich möchte den Kontrast zeigen, den ich in mir trage, als würden zwei völlig verschiedene Personen in mir leben. Oft schäme ich mich und habe Angst, darüber zu reden. Eine Frau in meinem Alter sollte wohl nicht so offen über ihre Leidenschaften und Sehnsüchte sprechen, die eher zur Jugend «gehören». In der Öffentlichkeit, in den Medien sind Frauen meines Alters entweder Grossmütterchen oder Hexen, falls sie versuchen, aus dem traditionellen Bild und den Erwartungen auszubrechen. Mit diesem Film möchte ich das Publikum in meinem Land provozieren und andere Frauen, die ähnlich fühlen, ermutigen. Ich nehme an, dass die Reaktion heftig und stürmisch sein wird und freue mich schon jetzt darauf.

 

 

Regie: Mirjana Karanović, Produktion: 2025, Länge: 101 min, Verleih: Cineworx