Nachbarn

Wenn Nachbarschaft zerstört wird: Um 1980, in einem syrisch-türkischen Dorf. Ein sechsjähriger Kurdenjunge erlebt, wie seine kleine Welt durch die grosse Welt der Kriegstreiber zerstört wird. Mit feinem Gespür für Humor und Satire erzählt Mano Khalil im Spielfilm «Nachbarn» von Erfahrungen aus seiner Kindheit unter der Assad-Diktatur. Ab 14. Oktober im Kino
Nachbarn

Ein Lehrer, der Kinder instruiert

In einem kleinen syrischen Grenzdorf in den frühen 1980er-Jahren erlebt der kleine Sero sein erstes Schuljahr. Er spielt freche Streiche mit seinen Kameraden, träumt von einem Fernseher, muss aber gleichzeitig erleben, wie die Erwachsenen um ihn herum immer mehr von nationalistischer Willkür und Gewalt erdrückt werden. Ein neuer Lehrer ist angereist, um aus den kurdischen Kindern stramme panarabische Genossen zu machen. Er verbietet mit seinem Schlagstock die kurdische Sprache, befiehlt die Verehrung Assads und predigt Hass auf die Juden, die zionistischen Erzfeinde. Der Unterricht verwirrt Sero, denn seine langjährigen Nachbarn sind eine liebenswerte jüdische Familie.

Mit feinem Gespür für Humor und Satire zeichnet der Regisseur Mano Khalil das Bild einer Kindheit unter der Assad-Diktatur, mit traurigen, aber auch einigen leichten Momenten. Der Film ist inspiriert von den persönlichen Kindheitserlebnissen des Regisseurs und spannt den Bogen der berührenden Erzählung bis in die syrische Tragödie der Gegenwart.

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Mutter Rosa umsorgt ihren Sero


Anmerkungen des Autors und Regisseurs Mano Khalil

Ich wurde in einem kleinen kurdischen Dorf in der Nähe der Stadt Kamishli in Syrien geboren. Dort hatte ich mit sechs Jahren meinen ersten Schultag. Meine Gefühle waren an jenem Tag eine Mischung aus Freude und Angst. Ich habe mich darauf gefreut, die Schule zu besuchen und wie die Grossen Hefte und Bücher zu bekommen. Gleichzeitig machte mir das Unbekannte auch Angst. Gleich am ersten Tag verbot uns der Lehrer Kurdisch zu sprechen. Ich blieb still. Am zweiten Tag zeigte mir der Lehrer ein Bild und fragte mich, was ich darauf sehe. Es war das Bild eines Apfels. Als ich spontan auf Kurdisch «Sêv» antwortete, war es für eine Minute still im Raum, und der Lehrer begann so auf mich einzuschlagen, dass ich am Ende des Schultages mit geschwollenen Händen nach Hause ging. Die Schulen in Syrien damals waren kein Ort zum Lernen, sondern ein Ort, um Kinder nach den Idealen der Baath-Partei zu erziehen. Erziehung auf Basis von Gehorsamkeit, Angst und Loyalität im Dienste des Diktators. Jeden Morgen standen wir im Schulhof wie Lämmchen in einer Reihe, mit gestreckter, rechter Hand und mussten einem schreienden Schüler antworten, der vor uns stand und Parolen rief. Erst viel später habe ich verstanden, um was es bei diesem Morgengeschrei ging. Ich war nicht glücklich, dass ich jeden Morgen schwor, meine Seele und mein Blut für einen Diktator zu opfern.

Die brutale und respektlose Behandlung durch die Lehrer löste in uns Schülern mit der Zeit grosse Aggressionen aus. Wir töteten Insekten, machten Pflanzen kaputt und behandelten einander auch nicht gerade sanft. Unbewusst suchten wir ein Ventil, um die in uns angestaute Wut rauszulassen. In den Schulen wurde hauptsächlich arabisch-sozialistischer Nationalismus gelehrt. Wir wurden militärisch erzogen, damit wir später in den Kampf gegen Israel ziehen und Palästina befreien. Eigentlich wussten wir nicht, was Palästina ist, aber wir wagten uns nicht zu fragen. Bei den regelmässigen Versammlungen im Schulhof wurden uns Messer in die Hände gedrückt, um eine Strohpuppe, welche die Juden symbolisierte, mit dem Messer zu attackieren und zu enthaupten. Dazu schrien wir: Es lebe Hafis Assad, es lebe die Baath-Partei, Tod dem Staat Israel. Unsere Väter haben bitter gelacht, als sie diese Übungen sahen. Ich konnte nie verstehen, warum in der Schule die Juden nicht respektiert wurden, denn ich mochte unsere jüdische Nachbarsfamilie sehr. Jakob, seine Frau Rosa und ihre Tochter Sarah haben mir immer wieder Geschenke gegeben, wenn ich ihnen am Schabbat die Lichter angezündet habe.

Die Familie Jakob war eine der letzten jüdischen Familien, die noch in Syrien lebten. Jakob hatte ein kleines Geschäft, in dem er Bonbons, Kopfschmerztabletten, Seifen, Haushaltsgeräte, Honig, Gift, Eier und auch Potenzmittel verkaufte. Er war der beste Verkäufer. Wenn eine Frau keine Kinder bekommen konnte, besuchte sie Jakob und bat ihn um seine Hilfe. Wenn jemand Krebs hatte, besuchte er ihn und fragte ihn nach einer Lösung. Jakob hatte Lösungen für jeden und alles. Nur für sich selbst konnte er kein einfaches Rezept finden, um Syrien zu verlassen. Im Gegensatz zu den Arabern und den meisten Kurden in Syrien durften die syrischen Juden keine Reisedokumente oder Ausweise besitzen. Sie durften ihre Wohnorte unter keinen Umständen für mehr als drei Tage verlassen. Ihr Vermögen wäre sonst konfisziert worden.

Heute, vierzig Jahre später, gibt es keine Juden mehr in Syrien. Die politische Situation in weiteren Gebieten des Nahen Ostens ist verheerend. Wenn an unseren Schulen mehr Respekt gelehrt worden wäre – vor sich selbst, vor dem Mitmenschen und seinen Werten, seinem Glauben und seinen Prinzipien – dann würde heute mehr Freiheit, Freundschaft, Liebe und vor allem Frieden herrschen. Mit meinem Film will ich aufzeigen, dass es trotz all den Repressionen und der Unterdrückung durch das Regime heitere Momente im Leben der Menschen gibt und sich für einzelne möglicherweise ungeahnte Wege eröffnen.

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An der Grenze zwischen Kurdistan und der Türkei

Wie die Welt des kleinen Sero zerstört wird

Immer wieder hören und sehen wir, was in Syrien unter Baschar al-Assad geschieht, wo seit 2011 Bürgerkrieg herrscht und 13 Millionen Syrier*innen auf der Flucht sind. Wie dies angefangen hat, kennen wir kaum. Der Film «Nachbarn» des in diesem Land geborenen Mano Khalil führt uns leise und einfühlsam an diese Zeit, diese Orte, diese Menschen heran. Nicht in einem Dokumentarfilm, sondern in einem Spielfilm und zudem aus der Sicht eines Kindes. Die bunte und vielschichtige Erzählung erlaubt es uns, nahe an die Menschen heranzukommen. In mehreren Familien erleben wir ihre Befindlichkeiten und komplizierten Bedingungen ihres Lebens. Wesentlich verursacht wird dies durch den Lehrer, der von der Stadt aufs Land kommt und hier Schule macht, die zwar weniger im Erlernen der Kulturtechniken, als vielmehr in der Indoktrination der Kinder im Sinne der Baath-Partei, von Hafez Assad und der Propaganda gegen den Zionismus und die Tötung der Juden besteht.

Da im Dorf seit Jahren eine jüdische Familie friedlich mit der Familie des kleinen Sero zusammenlebt, kommt der Kleine in einen unerträglichen inneren Konflikt. Die Front zwischen Freund und Feind geht mitten durch sein Herz. Eine Situation, die es in ähnlicher Form privat und gesellschaftlich immer wieder gibt. «Was wäre ein Leben ohne den Feind Israel?», fragt ein Dorfbewohner den Lehrer und verweist auf einen möglichen Grund, indem Menschen immer wieder ähnliche Sündenböcke brauchen, um mit unseren Emotionen und Ideen umzugehen. Und in einem ähnlichen Sinne hören wir Hannahs Klage, als ihr Geliebter das Dorf verlässt und zu den kurdischen Kämpfern zieht: «Wann hat das alles ein Ende?» Ein Satz, der weltweit immer und immer wieder, vor allem von den Frauen, wiederholt wird. Gegen Schluss spitzt sich die Thematik des Films zu, als Sero sich einen Fernseher wünscht, um seine geliebten Trickfilme sehen zu können. Doch die erste Sendung, die über den Bildschirm flimmert, zeigt eine Militärparade und das Bild Assads.   

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Seros Nachbarn: eine jüdische Familie

Biografie von Mano Khalil

 

1981-86 Studium der Jurisprudenz und Geschichte an der Universität Damaskus. 1987 – 94 Studium der Spielfilmregie an der Film- und Fernsehakademie in der ehemaligen Tschechoslowakei. Bis 1995 freier Mitarbeiter beim tschechoslowakischen und slowakischen Fernsehen. Heute arbeitet Mano als Regisseur und Produzent in Bern, wo er 2012 die Produktionsfirma Frame Film gegründet hat.

Mano Khalils Filme zeichnen sich durch eine feine Menschlichkeit und feinen Humor aus. In der Schweiz sind von ihm bekannt «Die Schwalbe» von 2016, «Der Imker» von 2013 und «Unser Garten Eden» von 2011.


Regie: Manu Khalil, Produktion: 2021, Länge: 124 min, Verleih: Frenetic