Regilaul

Ulrike Kochs Dokumentarfilm verbindet Schamanentum und Moderne aufs Schönste.

Ein aufschlussreiches und bemerkens- und bedenkenswertes Bild von Estlandzeichnet die deutsche Filmemacherin und Ethnologin Ulrike Koch mit «Regilaul ‑ Lieder aus der Luft»: ein ursprüngliches, traditionelles, wertkonservatives und dennoch revolutionäres Estland, ein Land, in dem man leben möchte. Dieses Bild steht etwas im Gegensatz zu dem in den Massenmedien verbreiteten, zumindest bezüglich Politik (wenig Hierarchien), Wirtschaft (erfolgreiche Währungsumstellung) und IT (Stimmabgabe, Steuererklärung, Shopping übers Netz) gültigen, modernen Estland-Bild.

Der Film führt über die traditionelle und die moderne Musik in die traditionelle und die moderne Kultur dieses Landes ein, in welcher Schamanentum und Moderne sich zu einer Einheit, einem glücklichen Lebensgefühl verbinden. Die anfänglich fremde Welt wird durch die Authentizität der Protagonisten und die Faszination der filmischen Gestaltung von Sequenz zu Sequenz vertrauter, bis sie uns schliesslich mitreisst und verzaubert.

Die auf acht Silben basierenden Regi-Lieder (Regilaul) entstammen dem alten finnisch-ugrischen Weltbild und sind Nährboden für die über die Landesgrenzen hinaus berühmte estnische Gesangskultur. Ihr eindringlich monotoner Klang besitzt geheimnisvolle Kraft und beflügelt zur Auseinandersetzung mit fremden, auch unsern Wurzeln und demonstriert Formen adäquater Umsetzung von Altem in Neues. In Zeiten elementarer Veränderung, die für viele mit dem Verlust von Identität einhergeht, betrifft die Frage, wie man sich in diese Welt einbringen kann, das Selbstverständnis und die eigene Identität. Das im Film beschriebene Land mit seinen Menschen erweist sich als ein Kraftfeld, das dieses aussergewöhnliche Gewebe zwischen Natur, Mensch und Lied zur Darstellung bringt und lädt ein zu einer spannenden und schliesslich lohnenden Auseinandersetzung.

Die Regisseurin zum Film…

«Meine früheren Kinofilme «Die Salzmänner von Tibet» und «Ässhäk – Geschichten aus der Sahara» zeigen Menschen in ihrem stolzen Dasein in archaischen Kultur- und Lebensformen. Interessiert haben mich dabei auch die den institutionalisierten Religionen vorausgehenden Denkwelten, in Tibet zu finden in Form von vor-buddhistischen Ritualen, bei den Tuareg von vor-islamischen Praktiken. Eine enge Verbindung zur Natur und ein respektvoller Umgang damit sind diesen Kulturen eigen. Die dargestellten Nomaden pflegen noch immer die mündliche Überlieferung, die im Vortrag von A-cappella-Gesang, von Epen, Legenden und Alltagstraditionen ihren Ausdruck findet. Vergleichbare Dispositionen sind weltweit zunehmend vom Untergang bedroht. Zu meiner Überraschung fand ich im nahe gelegenen und modernen Estland eine Entsprechung zu den Themen, die mir wichtig sind.

In «Regilaul» begegnet uns eine aus dem eigenen, tief verwurzelten Brauchtum und Gesang erwachsende Überlebenskraft. Die Neubelebung dieser Liedkultur, ihr Platz im heutigen Alltagsleben, bis hin zu den von Veljo Tormis auf der Grundlage des alten Liedguts komponierten Zyklen erlauben eine lebendige Sicht auf die Frage der kulturellen Identität in einem Zeitalter, in dem die Unterschiede so schnell dahinschmelzen wie unsere Gletscher. Über Jahrhunderte war die Geschichte Estlands geprägt von Fremdherrschaft und Unterdrückung.

Die Rückbesinnung auf die eigene Stimme, auf ein einfaches Lied, war ein wichtiger Faktor dafür, dass das Land mit einem Bevölkerungsanteil von knapp einer Million Esten seine Freiheit wieder finden konnte. 1988 sangen bei einer Demonstration auf dem Tallinner Sängerfestplatz 300’000 Menschen unter anderen Liedern ihre von der Sowjetherrschaft verbotene Hymne. Nach einem überwiegend friedlichen Prozess der Loslösung, bekannt geworden als «Singende Revolution», stellte Estland im August 1991 seine Souveränität wieder her. Inzwischen ist Estland EU-Mitglied. (…)

In Regilaul begegnet uns ein Lied von eigentümlicher Stärke. Die Wiederholungen der Achtsilbenverse und die Veränderungen, die aus den Wiederholungen hervorgehen, entwickeln einen Sog und führen zu einem inneren Wiedererkennen. Die Lieder sind freudig und scheinen erfüllt von Licht und der Weite des hohen Nordens. Sie sind aber auch tief, geheimnisvoll und vielschichtig wie die jahrtausende alten Moorlandschaften. (…)

Als ich begann, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, eröffnete sich mir eine Welt, in die einzutreten eine Herausforderung darstellt. Sie gleicht, wie eine der Protagonistinnen es sagt, einer Schatzkiste, die nur mit Behutsamkeit zu öffnen ist. In Estland ist das Volkslied kein harmloses, unzeitgemässes Relikt aus einer überkommenen Zeit. Vielmehr trägt es grossen Reichtum und eine Art Sprengkraft in sich, mit der eigentümlichen Fähigkeit, Traumata zu verwandeln und Mut zu machen zu persönlicher und kollektiver Identität.»

… und einige persönliche Bemerkungen

Ulrike Koch, die bereits mit «Die Salzmänner von Tibet» und «Ässhäk – Geschichten aus der Sahara» einem breiteren Publikum bekannt und von der Fachwelt ausgezeichnet wurde, hat mit «Regilaul ‑ Lieder aus der Luft» ein weiteres Werk geschaffen, das im internationalen Dokumentarfilmschaffen und beim breiten Publikum als sicherer Wert gilt. Ein filmisches Meisterwerk, ein emotionales Ereignis. Der Film weckt, die Jahrhunderte übergreifend, sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart beheimatet, eine tiefe, allgemein menschliche Sehnsucht nach dem Ursprung, nach Harmonie, Glück, Frieden, ja nach einer heilen Welt.

Die Regisseurin taucht ein in die Vergangenheit, ohne die Moderne zu negieren. Mit grossemRespekt bringt sie die grandiose Natur und die menschlichen Beziehungen auf unspektakuläre Weise zur Geltung. Wie in ihren früheren Filmen wählte sie auch im neuen ihren persönlichen Blickwinkel, recherchierte bis tief unter die Oberfläche, um dann das Gefundene zu verdichten und auf Unbekanntes und Verborgenes hinzuweisen.

Mit einem Gleichnis sozusagen eröffnet sie den Film: mit einer Szene, in welcher ein Mann, der Musiker Veljo Tormis (siehe Anhang: Einige der Protagonisten), den Schnee vom Haus bis zum See wegschaufelt, genau so wie dieser Mann uns im Lauf des Films den Weg zum Verstehen und Begreifen der Bilder und Töne dieses Werkes freischaufelt. In der zweiten Szene weitet sich der Horizont mit einem Elternpaar mit zwei Kindern, also auf die Familie und die Gesellschaft. Ihr Lied «Wenn ich, der Wolf, sterben würde» (siehe Anhang) lädt ein, bei ihnen in der gemütlichen Stube zu verweilen. In der dritten Szene mit einem Adlerpaar beim Nestbau, das später noch mehrmals gezeigt wird und dessen Junge am Schluss schlüpfen, wird auch noch die Fauna in den Lebenskreis einbezogen.

Die Kameraarbeit von Pio Corradi, mit welcher er die Menschen und die Landschaften grossartig erscheinen lässt, erzeugt durch ihre Statik eine Sogwirkung und lädt ein zum Verweilen. Beeindruckend auch die Montage von Magdolna Robok, die in der Abfolge der Kapitel und im Feinschnitt zum Weiterdenken und zum Assoziieren anregt, was ihr auch schon in Kochs früheren Kinofilmen gelungen ist.

Einige der Protagonisten

Veljo Tormis

Komponist. Er wurde 1930 als ältester Sohn einer musikliebenden Familie in Kuusalu, Nordost-Estland, geboren. Der Vater war Küster der Pfarrkirche von Vigala, wo der junge Tormis seine ersten Erfahrungen mit dem Chorgesang sowie den damit einhergehenden national geprägten Gefühlen und der estnischen Chor-Bewegung machte, die den späteren Komponisten prägen sollten. Nach einem Organistenstudium in Tallinn studierte er von 1950 bis 1956 am Moskauer Konservatorium unter Professor Vissarion Shabalin, der sein Interesse für den kompositorischen Einsatz von Volksklängen unterstützte. Sein Durchbruch mittels moderner Kompositionstechniken und einer anti-romantischen Haltung gegenüber Volksmusik erfolgte zwischen 1960-1965, hervorgerufen einerseits durch seine Begegnung mit dem authentischen Klang und Rhythmus von Hochzeitsliedern in abgelegenen estnischen Dörfern, anderseits mit dem Werk von Béla Bartók und durch die Analyse der Chormusik von Zoltán Kodály nach einer Ungarnreise 1962. Darauf entstand 1967 sein erster grosser Zyklus «Estonian Calender Songs», in dem seine Besonderheit, die urtümlich bezaubernde Kraft alter Volksweisen im Choralgesang einzusetzen, bereits voll offen gelegt war. Für Veljo Tormis ist das Meer eine wichtige Quelle der Inspiration. In seinem Landhaus an der Nordküste Estlands verfasste er die meisten seiner Werke. Im Gegensatz zu Arvo Pärt, dem anderen weltberühmten estnischen Komponisten, der lange Zeit im Ausland lebte, hat sich Veljo Tormis stets für das eigene Volksgut eingesetzt und versucht, dies für Land und Leute nutzbar zu machen. Auch wenn sich die Arbeit der beiden Komponisten in ihrer Essenz entsprechen mag, so besteht ein bedeutender Unterschied in Veljo Tormis’ Hinwendung zum alten Liedgut und dem vorchristlichen, finno-ugrischen Weltbild, während Arvo Pärts Musik durchtränkt ist von seinem russisch-orthodoxen Glauben. In seiner kompositorischen Arbeit wandte sich Veljo Tormis auch der Volksmusik anderer Regionen und Volksgruppen zu, z. B. in «Vepsian Paths» 1983. Dieses Stück gehört zum bedeutenden Liedzyklus «Forgotten People», der auf das Erbe weiterer finno-ugrischer Völker aufbaut. Eine Anzahl seiner Werke ist bei ECM erschienen.

Jaan Kaplinski

Schriftsteller. Er wurde 1941 als Sohn einer estnischen Mutter und eines polnisch-jüdischen Vaters geboren. Beide Eltern waren Philologen. Der Vater starb im sowjetischen Gulag, wohin er während der sowjetischen Besetzung Estlands deportiert worden war. Jaan Kaplinski studierte Linguistik an der Universität Tartu und schloss sein Studium in Romanistik ab. Danach war er als Soziologe, Übersetzer aus dem Englischen, Französischen, Spanischen, Schwedischen und Chinesischen und Schriftsteller tätig. Bereits früh erwarb er sich den Ruf als einer der einflussreichsten Dichter der estnischen Moderne. Seine oft meditativen Gedichte schöpfen unter anderem aus östlichen Philosophien. Daneben publiziert er als Essayist, Literaturkritiker und Philosoph. Wiederkehrende Themen des Linksintellektuellen sind der Mensch im Kapitalismus und die Verbrechen des kommunistischen Totalitarismus. Das alte finno-ugrische Gedankengut, dessen Besonderheiten er durch seine verschiedenen Studien und Sprachanalysen konkret aufzuzeigen vermag, besitzt einen hohen Stellenwert für ihn. Diesem Denken entsprechend ist er ein Verfechter einer nachhaltigen, naturgerechten Lebensweise, wie sie traditionellen Kulturen eigen ist. Seit 1965 hat er insgesamt 14 Gedichtsammlungen, fünf Essaysammlungen und einige Prosawerke veröffentlicht. Er schreibt Gedichte in Englisch, Französisch und Võro, einem südestnischen Dialekt, der Sprache seiner Großeltern, die er für reicher hält als das moderne Estnisch. Seit 1994 ist er Mitglied der Académie Universelle des Cultures.

Lea Tormis

Theaterhistorikerin. Sie entstammt einer berühmten estnischen Intellektuellenfamilie und ist die Ehefrau von Veljo Tormis. Sie verfasste etliche Publikationen und Biografien zu Theater und klassischem sowie modernem Tanz. Auf der Grundlage alter Texte kompilierte und redigierte sie das Libretto zu «Eesti Ballaadid», den Estnischen Balladen.

Jaak Johanson

Schauspieler und Sänger. Er wurde 1959 in Tartu, Südestland, geboren. 1982 schloss er sein Studium am Tallinn Konservatorium mit einem Schauspiel-Diplom ab. Von 1982 – 1987 spielte er auf der Bühne des Tallinner Stadttheaters. Anschliessend kreierte er mit anderen Akteuren der Tallinner Bühnen ein unabhängiges Theaterprojekt, wozu er fünf Jahre lang in ganz Estland unterwegs war. Teil des Projektes war es, Tagebücher, Liedhefte, Photos u. a. der älteren Generation zu sammeln, die sich seit der Sowjetischen Besetzung nicht mehr hatte äussern dürfen. Aus der künstlerischen Mission dieser Tourneen und aus dem Repertoire der gesammelten Dokumente gingen verschiedene weithin beachtete Theateraufführungen hervor. Mehrere Jahre leitete Jaak Johanson das Kulturprogramm des bedeutenden Theaters «Old Town House of Music» in Tallinn. Fasziniert vom authentischen Regilaul kennt er unzählige Lieder, besitzt das seltene Talent, neue Texte zu improvisieren, und versucht dies seinen Studenten weiterzugeben. In der in Estland sehr angesehenen Formation «Johanson & Vennad», die sich seit früher Jugend aus den drei Johanson Brüdern und der Schwester Kärt, selbst eine aktive Folk-Sängerin, formiert hat, tritt er regelmässig mit selbst getexteten und selbst komponierten Liedern auf.

Eelika Hainsoo

Traditionelle Musikerin. Sie ist eine estnische Folk-Sängerin und virtuose Spielerin verschiedener Instrumente wie Kannel, eine estnische Zither, Streichharfe, Geige. Ihre erfolgreiche Gruppe «Vägilased» verbindet traditionelle estnische Musik, Regilaul und Spiellieder mit modernen Harmonien und Rhythmen. Ihre schöne, melodisch klare und geübte Stimme und ihre Stilsicherheit macht sie zu einem Vorbild für viele jüngere Sängerinnen.

Lauri Õunapuu

Traditioneller Sänger. Er ist einer der wichtigsten Vertreter des Regilaul, der das alte Lied und die damit verbundenen kulturellen Werte auch heute noch zu leben versucht. Auch er gehört zu den wenigen, die neue Texte improvisieren können. Er beherrscht eine Vielzahl traditioneller Instrumente wie den estnischen Dudelsack, den «Torupill», verschiedene zum Teil selbst gefertigte Kannel und andere mehr. Damit bringt er sich ein in die Ethno-Metal-Band «Metsatöll», eine der professionellsten Gruppen Estlands mit Engagements auch im Ausland. In seinen zahlreichen Workshops vermittelt er sein Wissen über traditionelle Musik und Regilaul.

Eines der Lieder:«Wenn ich, der Wolf, sterben würde»

«Wenn ich, der Wolf, sterben würde,

der Bär aus der Welt verschwände,

hätte ich keinen Beerdiger.

Der Wolf keinen, der ihn bettet.

Wenn ich, der Wolf, sterben würde,

der Bär aus der Welt verschwände,

einen Monat würde ich zu Hause bleiben,

den zweiten in meiner Stube,

den dritten in der Kammer.

Dann werde ich, die Gans, stinken,

ich, die Schwanengans, riechen,

ich, der Seetaucher, Geruch verbreiten.

Dann werden die Angehörigen gesucht.

Was stinkt die Gans hier?

Es ist nötig, den zu beerdigen,

dann wurde ich ins Loch gelegt.

Es gingen ein, zwei Jahre vorbei,

es kam die liebe Saatzeit,

Saatzeit, Pflügzeit

und obendrein die lange Hochzeitszeit.

Wo ist unser lieber Sohn?

Wo ist der Unsrige und Eigene?

Wer singt die Lieder mühelos?

Wer stellt die Worte mutig?»

 

Trailer: www.regilaul-film.com/de/home.html#trailer