Rosie
Rosie, um Würde und Autonomie ringend
Lorenz Meran, ein erfolgreicher schwuler Schriftsteller in akuter Schaffenskrise, muss von Berlin in die Ostschweiz zurückkehren, weil seine Mutter Rosie nach einem Sturz im Spital liegt. Als er sich dort mit der Tatsache konfrontiert sieht, dass die lebenshungrige Rosie sowohl fremde Hilfe als auch das Altersheim ablehnt, sitzt er vorerst einmal im heimatlichen Kaff Altstätten fest. In den Wirren von Rosies Kampf gegen Bevormundung und Verlust der eigenen Würde, von Familienzwist und alten Geheimnissen, entgeht Lorenz beinahe, dass die Liebe an seine Tür klopft.
Nach vierzehnjähriger Leinwandabstinenz kehrt Marcel Gisler mit einem ganz eigenen Heimatfilm zum Kino zurück. Mit einem grossen Talent für das Geschichtenerzählen webt er ein subtiles Netz von aussen- und innerfamiliären Beziehungen, erweist sich als Meister der Schauspielführung und schreibt Dialoge so frisch und authentisch, wie sie sonst nur das Leben kennt. Mit «Rosie» gelingt Gisler ein ebenso vergnügliches wie berührendes Beziehungsdrama und der beste Dialektfilm seit Jahren.
Lorenz (Fabian Krüger), Sophie (Judith Hofmann) und Rosie (Sibylle Brunner)
Leben auf verschlungenen Wegen
In Altstätten, der St. Gallischen Kleinstadt im Rheintal nahe der Grenze zu Österreich, hat die Seniorin Rosie ihren Witwen-Alltag mehr oder weniger im Griff. Die eigene Gesundheit scheint ihr eher ein abstrakter Begriff, dem sie mit Alkohol- und Nikotingenuss begegnet. Ihre erwachsenen Kinder leben absorbiert in ihren eigenen Welten, die Tochter Sophie in unmittelbarer geografischer Nähe, der Sohn Lorenz im fernen Berlin, und kümmern sich mässig um ihre alte Mutter.
Als Rosie nach einem leichten Schlaganfall im Spital landet, ändert sich die familiäre Beziehungskonstellation augenblicklich. Von nah und fern eilen ihre beiden Kinder herbei und schmieden besorgt ihre Pläne für die Zukunft der Mutter. Doch die lebensfrohe Rosie rappelt sich schnell wieder auf, und kehrt in ihr gewohntes Leben zurück, wo sie sich standhaft gegen Fremdbestimmung und Altersbetreuung wehrt. Lorenz, dessen Schriftsteller-Karriere seit Längerem stagniert, reist nun öfters von Berlin nach Altstätten, um sich um seine Mutter zu kümmern. Derweil nörgelt sich Sophie, die sich seit ihrer Kindheit vernachlässigt fühlt, einmal mehr ins Abseits.
Im rasch heraufbeschworenen Familienknatsch stehen unvermittelt alle drei vor ihren eigenen emotionalen Abgründen: Sophie muss sich ihren Verlustängsten und den massiven Anschuldigungen ihrer Mutter stellen. Rosie wird heimgesucht von den Erinnerungen an ihre unglückliche Ehe und den daraus resultierenden Seitensprüngen. Der bindungsscheue Lorenz kann seine Augen nicht mehr länger vor seiner Lebens- und Schaffenskrise verschliessen, degradiert eine sich anbahnende Liebesbeziehung einstweilig zur Affäre und kommt langsam dem Geheimnis seines verstorbenen Vaters auf die Spur. Wie sich die Schleier der Vergangenheit nach und nach lüften, finden Rosie, Lorenz und Sophie ein Stück weit zu sich und als Familie zueinander. Am Ende wird Rosie ihren Schalk, ihre Lebensfreude, aber auch ihre Affinität für den Alkohol ins Altersheim retten.
Mit wohltuender Leichtigkeit aber ohne vor grossen Gesten zurückzuschrecken, erzählt Marcel Gisler eine bewegende Familiengeschichte, in welcher die Beziehungen zwischen der Mutter Rosie und ihren Kindern im Exposé von grundlegenden Gegensatzpaaren weit über sich hinausweisen: Daheimgebliebene Tochter und verlorener Sohn, einfache Verhältnisse und weltstädtisches Bohèmeleben, bedingungslose Paarbeziehung und Beziehungsflucht, Zukunftsängste und Hader mit der Vergangenheit. Dabei kann sich Gisler bei seinem filmischen Weg auf verschlungenen Wegen auf wunderbare Schauspielerinnen und Schauspieler stützen. Zu Recht wurde «Rosie» an den Solothurner Filmtagen von Publikum und Kritik gleichermassen gefeiert und danach in allen relevanten Kategorien – Bester Spielfilm, Bestes Drehbuch, Beste Haupt- und Nebendarsteller – für den Schweizer Filmpreis 2013 nominiert.
Rosie zwischen Lorenz und Mario (Sebastian Ledesma)
Ein paar Worte als Würdigung
Filme über Entmündigung oder Widerstand im Alter, über verdrängte oder eingestandene Homosexualität, über Geschwister- und Elternkonflikte gibt es im Kino zuhauf. Den Film «Rosie» von Marcel Gisler zeichnet in besonderer Weise aus, dass er all diese Themen und einige zusätzliche in höchst gekonnter Weise ineinander- und auseinanderfliessen lässt – genauso wie wir es im Leben erleben, wo alles mit allem in einem ständigen Prozess des Verwandelns, einem ewigen «Panta rhei» verschlungen ist. Dieser Film kommt beim Publikum so gut an, so glaube ich, weil alle Zuschauer sich in dieser oder jener Figur, dieser oder jener Szene wiederfinden und damit identifizieren. Das funktioniert so, weil das Kinopublikum im Grunde immer die eine Hälfte des Werkes macht, der Regisseur die andere und der Film erst beim Sehen in unseren Köpfen zu einem Ganzen zusammengefügt wird.
«“Wie viel hat das alles mit Ihnen persönlich zu tun?“, werden Autoren oft gefragt. Die richtige Antwort ist: „Es hat alles mit mir zu tun.“ Aber eben nicht in dem Sinne, dass die Erzählung ein Lebensbericht wäre, sondern in dem viel tieferen Sinne, dass sich in ihr zeigt, wie der Autor sein Leben erlebt – sein Leben jenseits der äusseren Fakten und Geschehnisse.» Was Peter Bieri, alias Pascal Mercier, der Autor von «Nachtzug nach Lissabon», in seinem Essay «Eine Erzählung schreiben und verstehen» formuliert hat, gilt wortwörtlich auch für den Film «Rosie». Und dafür sind auch Lorenzens Freund Mario, Sofies Partner Alex, Rosies Nachbarin Chantal, der verstorbene Vater und Markus nötig. Durch sie erhält der Mensch, das Menschliche seine faszinierende Vielfalt, seinen unergründlichen Reichtum.
Wenn die Handlung der Figuren, die Entwicklung der Themen, die Aussen- und Innenansichten, die Gesten und die Mimik der Akteure, die Landschaften, die Seelenlandschaften sind, das Haus und die Wohnung Rosies, der Rhythmus und die Melodie des Ganzen stimmig sind, wie dies bei Marcel Gislers grossartigem Film zutrifft, dann wird «es eine Erzählung sein, die Sie nicht als etwas bloss Erzähltes erleben, sondern als eine Geschichte, von der es einfach unmöglich ist zu glauben, dass sie nicht stattgefunden hat.» So schreibt Bieri im gleichen Text über die Erzählung; eine ähnliche Erfahrung macht man mit dem Film «Rosie». Er steht vor uns wie ein erratischer Block von einem fremden Stern und doch als ein Stück von uns allen: selbstverständlich und doch unerfindlich, erklärbar und doch geheimnisvoll.
Rosie, um Sibylle Brunner als Rosie: eine grosse Schauspielerin in einer grossen Rolle
Anmerkungen des Regisseurs Marcel Gisler
In den 14 Jahren, während denen es keinen von mir realisierten Film zu sehen gab, war ich doch fortwährend mit dem Filmhandwerk beschäftigt. Als Drehbuchautor von 36 Folgen der Schweizer Fernsehserie «Lüthi & Blanc», als Dozent für Drehbuchentwicklung, Regiebetreuung und Schauspielführung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin und nicht zuletzt als Autor jener Projekte, die ich im Lauf der Jahre weiter entwickelt hatte, aber aus verschiedenen Gründen noch nicht realisieren konnte oder wollte. Eines davon war «Rosie»; die ersten Notizen dazu stammen aus 1995. Der ungarische Regisseur Bela Tarr, dem ich einige Male von meiner Mutter erzählte hatte, meinte, ich sollte einen Film über sie drehen.
«Rosie» bildet folglich keinen Neuanfang, sondern eine Fortführung meines filmischen Schaffens. Dennoch gab es bei diesem Film für mich in mancher Hinsicht ein «erstes Mal». Ich hab zum ersten Mal in Schweizerdeutsch gedreht. Bislang war ich der Meinung, unsere Mundart wäre zu sperrig oder zu unbeholfen für das Medium Film. Das war ein Irrtum. Ebenso wie jede andere Sprache eignet sich auch Schweizerdeutsch zur Dramatisierung. Seine Stärke liegt in der Direktheit und in der Reduktion, eine wahre Entdeckung für mich.
Und ich habe zum ersten Mal ausschliesslich mit Schweizer Schauspielerinnen und Schauspielern gedreht. Auch in dieser Hinsicht musste ich Vorurteile korrigieren. Wir haben grossartige Schauspieler und Schauspielerinnen schweizerischer Herkunft. Sibylle Brunner, Fabian Krüger und Judith Hofmann arbeiten alle an deutschsprachigen Theatern im Ausland und sind selten in Schweizer Filmen zu sehen. Sebastian Ledesma ist ein Naturtalent, das ich vom Küchentisch eines Freundes weg gecastet habe. Da ich meine ersten Spielfilme überwiegend mit Laien gedreht habe, kenne ich in der Hinsicht keine Berührungsängste. Und schliesslich habe ich mich zum ersten Mal filmisch mit meiner Familie auseinandergesetzt. Mein Heimatort Altstätten in der Ostschweiz, eine Kleinfamilie mit zwei Kindern, einer Tochter und einem Sohn, der früh verstorbene Vater, der Profiboxer gewesen war, die Spekulation über seine Homosexualität, die Vereinsamung der Mutter – all dieses autobiographische Material bildet den Rahmen der Filmerzählung. Innerhalb dieses Rahmens habe ich mich jedoch ziemlich frei bewegt, da ich nicht vorhatte, meine Familiengeschichte wahrheitsgetreu nachzuerzählen. Einzig bei der Rosie-Figur habe ich mich um grösstmögliche Authentizität bemüht. Natürlich hat die Schauspielerin Sibylle Brunner ihre eigene Persönlichkeit und ihre Eigenheiten in die Rolle eingebracht. Aber die Figur ist im Drehbuch so genau wie möglich nach dem Vorbild meiner Mutter gezeichnet, die vor zehn Jahren gestorben ist. Der Film ist eine Hommage an sie.