Sira - Wenn der Halbmond spricht
Der Film der Schweizerin Sandra Gysi und des Ägypters Ahmed Abdel Mohsen gefällt, ohne dass er zutiefst berührt, er berührt, ohne dass er zutiefst gefällt. Das ist in keiner Weise als Abwertung gemeint, sondern als nüchterne Feststellung – die es zu hinterfragen gilt. Die Inhalte der Gesänge, die Gespräche der Beteiligten sind, wenn wir ehrlich sind, weit weg von unserer Kultur, und die Fragen, die auftauchen, bleiben meist unbeantwortet. Dies aber gerade beschreibt die Qualität des Werkes. Die beiden Filmemacher versuchen keine billige Anbiederung im Sinne einer oberflächlichen Multikulturalität.
Der sorgfältig und unprätentiös realisierte Film folgt Sayyed el-Dawwy, dem 80-jährigen letzten lebenden Dichter der Sira, des grössten arabischen Epos. Nur er kennt ihr fünf Millionen Verse auswendig, nur er hält die Geschichte vom Volk des Halbmonds am Leben. Über Generationen ausschliesslich mündlich überliefert, wird er diese Verse an seinen Enkel Ramadan weitergeben, vorgetragen mit Rababas, einem ägyptischen Saiteninstrument, und mit Perkussion. Neben religiösen Intros und den Geschichten des Epos flicht er aktuelle oder lokale Ereignisse und zuweilen auch Weltgeschehen ins Ganze ein. Der Vortrag des gesamten Epos dauert mehrere Tage.
Die Sira ist von der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt, womit nicht nur ihre kulturelle Bedeutung wertgeschätzt, sondern auch belegt wird, dass das Epos und seine Tradition weit über Ägypten und den arabischen Raum hinaus von Bedeutung ist.
Im Gegensatz zum Koran, dem schriftlich festgehaltenen heiligen Buch des Islam, lässt die Sira Interpretationen und Veränderungen zu. Kein Sira-Vortrag gleicht dem anderen, die Geschichten werden immer weiter entwickelt, neue Aspekte ihnen beingefügt, in kürzeren oder längeren Versionen vorgetragen. Im Epos werden historische Heldentaten mit mythologischen Geschichten vermischt. Doch bleibt einem diese visuell wie akustisch bunte Welt auch nach 77 Minuten Film fremd. Dieses Fremd-Sein jedoch erweist sich als wichtige neue Erfahrung, als Erweiterung des Bewusstseins. Fremd ist fremd, da gibt es nichts wegzudiskutieren oder zu «integrieren». Fremdheit erweist sich nicht nur als Negativwort, sondern auch als neue Qualität, die wir wahr zu nehmen haben.
Wahrscheinlich sehen, hören und entdecken wir Einzelheiten, die uns im Umfeld der Ereignisse des «Arabischen Frühlings» als bekannt erscheinen, als Bestätigung oder Verneinung eigener Antworten. Vielleicht wird einem auch bewusst, dass in dem Land Nordafrikas, für welches wir Hoffnungen hatten oder weiter haben, noch viele Fragen unbeantwortet sind: die Auseinandersetzung von Tradition und Moderne, die Vermischung von Religion mit Kultur und Politik, der Mangel an Bildung und gleichzeitig die Sehnsucht danach. Sich dieser grundsätzlichen Fremdheit aussetzen, kann als Gewinn erfahren werden. Kunst kann und soll nicht immer Gleichklang, Harmonie heraufbeschwören. Sie kann und soll – wie ein grosser Stein, der auf einer Strasse liegt und das Durchkommen verunmöglicht – einfach da sein und Widerstand leisten. Und das tut der Film «Sira – Wenn der Halbmond spricht» auf überzeugende Weise.