Skin

Ein Film, der unter die Haut geht: «Skin» von Guy Nattiv, mit Jamie Bell in der Hauptrolle, erzählt die authentische Geschichte von Bryon Widner, der aus der weissen US-Nazi-Szene aussteigen will: hart, doch gerechtfertigt hart. - Ab Ende Juli in den Kinos.
Skin

Bryon, dessen Tattoos sein Leben erzählen

Persönliche Vorbemerkung: Nachdem ich den Trailer von «Skin» visioniert hatte, wollte ich den Film nicht auf der Website vorstellen. Nachdem ich den ganzen Film gesehen habe, bin ich nun überzeugt, dieser Film muss gezeigt, geschaut und hier besprochen werden. Weil es den Faschismus weiter gibt, haben wir uns auch damit auseinanderzusetzen - auch angesichts der Tatsache, dass noch heute hier wie dort Nazis frei herumlaufen und für ihre Ideologie missionieren.

Bryon Widner (Jamie Bell), der Hauptprotagonist von «Skin», ist in einer Familie aufgewachsen, die ihn einst von der Strasse geholt hat. Seine Pflegeeltern Fred und Shareen sind Mitgründer einer Gang: des Vinlanders Social Club. Diese protestiert nicht nur friedlich, sondern besteht aus meist gewaltbereiten jungen Männern, die an extrem-rechte Ideologien glauben, danach leben und ihre Aktionen mit Tattoos auf ihren Körpern verewigen. Nach einiger Zeit als Gruppenangehöriger melden sich bei Bryon Zweifel am Sinn seiner Handlungen. Und als er auf einer Versammlung Julie (Danielle Macdonald) und ihre drei Kinder trifft, findet er bald einmal die Kraft, um der Gang und ihrer Ideologie den Rücken zu kehren. Sie gibt ihm den Halt, den er braucht, um seinem alten Leben abzuschwören. Dazu gehören auch die Sitzungen, bei denen er sich die meisten seiner Tätowierungen entfernen lässt. Doch seine einstigen Freunde und Genossen können seinen Sinneswandel nicht nachvollziehen, geben keine Ruhe, um ihn zurückzugewinnen.

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Julie, Bryons Retterin

Ein notwendiger Film ...

Der Film «Skin», in Amerika realisiert vom israelischen Regisseurs Guy Nattiv, basiert auf wahren Begebenheiten, die in bedrückenden und provozierenden Bildern und Tönen nacherzählt werden. Das ist derb und brutal, zugleich gefühlvoll und anteilnehmend. Bryons ganzer Körper, insbesondere sein kahl geschorener Kopf, ist tätowiert und berichtet von den begangenen Taten, respektive Untaten, die im Sinne einer ideologischen Mischung aus nordischer Mythologie und nationalsozialistischem Gedankengut begangen wurden. Gleichzeitig sind es die Codes, die Auskunft geben über die genaue Verortung der Gang innerhalb der Skinhead-Szenen, nicht ideologiekritisch analysiert, sondern emotional nachvollziehbar.

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Bryon mit Julie und ihren drei Mädchen

... gegen den Faschismus

Bryon Widner ist ein in Amerika aus dem Fernsehen bekannter Neonazi, der, als er aus der Szene auszusteigen begann, sein Umfeld an das FBI verriet und dann in den Untergrund verschwand. Der Regisseur bettet die Handlung in karge, kalte Winterlandschaften, zeigt die Aufmärsche und Überfälle, aber auch das Leben in der Gruppe: den Hass und die Härte, die Regeln und die Rituale, die Treue und die Hörigkeit. Aufgezeigt vor allem am grandios aufspielenden Jamie Bell, der bei den Älteren von uns noch bekannt sein dürfte aus «Billy Elliot», dem sozialkritischen Erfolgsfilm von Stephen Daldry aus dem Jahr 1984.

Der vorliegende Langspielfilm hat einen Vorläufer: den 21-minutigen Kurzfilm gleichen Namens, der mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Beide Filme des 1973 geborenen Regisseurs Guy Nattiv schildern die fesselnden und herausfordernden Geschichten des rechts-extremen Rassismus in den USA. Im Kurzfilm lächelt ein schwarzer Mann einen weissen Jungen in einem Supermarkt an. Der Vater des weissen Jungen, ein rechtsextremer US-Amerikaner, schlägt den schwarzen Mann daraufhin zusammen. Der Regisseur nutzte seine Rede bei der Oscar-Verleihung für einen persönlichen Appell: «Meine Grosseltern haben den Holocaust überlebt. Den Fanatismus, den sie damals erlitten haben, sehen wir auch heute: überall, in den USA, in Europa. Mein Film soll aufklären. Er soll unseren Kindern einen besseren Weg aufzeigen.»

Unterbrochen wird die Haupthandlung immer wieder durch die schmerzhafte Prozedur, der sich Bryon ganze 612-mal unterziehen musste: dem Entfernen der Tattoos. Damit durchläuft er nicht nur eine äussere, sondern auch eine innere Reinigung. Als er am Ende des Films, fast ohne Tattoos, bloss noch mit Narben im Gesicht zu sehen ist, nimmt man es ihm ab, dass er den langen Weg aus schmerzhafter Überzeugung und fussend auf der Kraft seiner Integrität gegangen ist: eine wahre Metaneua, eine sein ganzes Menschsein durchdringende Veränderung.

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Eine schwierige Beziehung

Aus einem Interview mit Guy Nattiv, dem Regisseur von «Skin»

 

Wie sind Sie auf diese Geschichte aufmerksam geworden? 2012 sass ich in einem Café und las Zeitung, als ich die Fotos von Bryon Widner sah, dieses verrückten, faszinierenden ehemaligen Neo-Nazi-Skinheads. Als Enkel von vier Holocaust-Überlebenden wollte ich mehr wissen. Ich zeigte den Artikel meinem Grossvater, der meine Hauptinspiration war. Er ermutigte mich, die Geschichte weiter zu verfolgen und sagte mir ohne einen Hauch von Zögern: «Dies sind die Geschichten, von denen die Welt mehr braucht.» Nun mussten wir aber Bryon Widmer erst mal findig, was schwieriger war als erwartet. Er verlangte, ich solle ihn zu einem Abendessen abseits der Autobahn treffen. Ich bin aus Israel eingeflogen und hatte keine Ahnung, ob Bryon sich zeigen würde. Doch er kam. Und nun zögerte ich, weil ich noch nie zuvor einen ehemaligen Skinhead getroffen hatte. Doch schliesslich sassen wir vier Tage lang zusammen, und am Schluss verstanden wir uns besser, als jeder von uns es je erwartet hatte.

Dies ist Ihr erster US-amerikanische Spielfilm. Warum diese Geschichte jetzt erzählen? Wir leben in einer verrückten Zeit. Die Menschen haben die Hoffnung verloren. Frieden und Liebe sind gegenwärtig völlig deplatzierte Wörter, Gewalt und Hass beherrschen das Leben. Als ich Bryons Geschichte las, war Amerika noch anders als heute. Doch ich erkannte bereits damals die Samen des Unglücks, die bald danach platzen würden. Ich hatte das Gefühl, dass diese Geschichte von diesem beschädigten Mann, der eine scheinbar unmögliche körperliche und geistige Veränderung durchgemacht hatte, erzählt werden muss. Es gibt Menschen, die eine zweite Chance verdienen. Denn es ist möglich, einen Ausweg zu finden. Ich möchte das Publikum herausfordern, die Vergebung in sich zu finden. Heute ist es komplizierter: Ist Gewalt nicht in unsere DNA eingegraben? Können wir uns völlig dem entziehen, zu dem wir erzogen wurden? «Skin» handelt von den Erkundungen eines komplizierten Mannes in einer komplizierten Gesellschaft.

Regie: Guy Nattiv, Produktion: 2019, Länge: 110 min, Verleih: Ascot-Elite