Telling Strings

Die Geschichte der palästinensischen Sängerin und Oud-Spielerin Kamilya Jubran und ihrer Familie

«Eine Fremde in dieser Welt, eine Fremde. In der Entfremdung liegt harte Einsamkeit und schmerzhafte Trostlosigkeit, doch immerzu denke ich an ein zauberhaftes Zuhause, das ich nicht kenne. Träume voller Schatten eines fernen Landes, das meine Augen nie gesehen haben. Eine Fremde in dieser Welt, eine Fremde. Ich ging gegen Osten und Westen, meinen Geburtsort habe ich nicht gefunden, und niemand hat mich erkannt oder von mir gehört.»

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Mit diesen Worten eines Liedes beginnt der Film «Telling Strings» der Berner Filmemacherin Anne-Marie Haller. Gesungen von der palästinensischen Sängerin und Oud-Spielerin Kamilya Jubran (Text Ghareeba). Inbrünstig, leidenschaftlich, erschütternd, traurig und sinnlich. Das Werk, das die Filmemacherin mit der Liedermacherin konzipiert und realisiert hat, erzählt von deren palästinensischer Familie.

Die Geschichte der Familie …

Von Elias Jubran, der 1933 geboren wurde und seit 1968 Musiklehrer und Oudbauer ist, seinem Bruder, seiner Frau und seinen Kindern, die in Israel leben oder, wie die Tochter, das Land auf der Suche nach mehr Offenheit verlassen hat. Der Film lässt erleben, wie sich eine Kultur, inmitten des bedrohlichen Umfeldes im Staat Israel, weiterentwickelt und was Musik dazu beiträgt. Ein filmisches Dokument von hoher Authentizität und Glaubwürdigkeit darüber, wie sich eine kulturelle Identität zwischen Protest, Resignation und Hoffnung erhält. Wir erleben die Familie Jubran in der Gegenwart und in den Gesprächen sechzig Jahre zurück blendend. Die drei Kinder, in einer politisch und musikalisch geprägten Umgebung aufgewachsen, bleiben auf unterschiedliche Weise mit Musik und Politik verbunden. Sie öffnen uns Fenster zur Welt: zu den von Palästinensern besiedelten Gebieten in Israel, nach Jerusalem und Paris. Ein Musikfilm, der von den faszinierenden Melodien der palästinensischen Musik und den unterschiedlichen Lebensentwürfe lebt. Mit fünf Personen beschreibt «Telling Strings» (Erzählende Saiten) aus fünf Perspektiven die Geschichte der Familie und gleichzeitig die Geschichte Palästinas seit 1948.

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… ist die Geschichte Palästinas,

Nach der Errichtung des Staates Israel und der Vertreibung der Palästinenser bleibt der junge Jubran aus Protest und Heimatliebe in seinem Geburtsort Al Rameh im Norden Israels. Aufgrund der politischen Situation wird er jedoch isoliert. Die Familie und die Musik helfen ihm, die Isolation zu durchbrechen. Schon vor dem Titel tauchen wir ein in das Leben einer Palästinenserin: mit den Liedern von Kamilya Jubran, der heute auch in Europa erfolgreiche Oud-Spielerin und Sängerin, mit ihren berührenden und aufwühlenden Liedern. Sie ging mit dem Filmteam – und geht mit uns – nach Hause, zum Vater, zur Mutter, zu den Brüdern und zum Onkel. Im Film ist sie die Fragende, in den Liedern die Sinnierende, Klagende und Anklagende. Zu einer weiteren individuellen und zugleich generellen Sicht verhilft dem Film der Vater Elias, ein christlicher Palästinenser. Er ist für uns der Zeitzeuge, der mit Worten, die aus erfahrenem Leid stammen, sein Leben und das Leben der Palästinenser erklärt. In Zwischensequenzen sehen wir, wie er einen Oud, eine Kurzhalslaute, baut. Auf einer dritten Ebene bringt Mutter Nuhad die griechisch-orthodoxe Religiosität der Familie, ihren Alltag und ihre Haushalt in den Film ein. Weiteren Aspekte werden von den zwei Brüdern Khaled und Rabea thematisiert. Sie gehen ihre eigenen Wege, als Musikwissenschaftler der eine, als Techniker bei Intel der andere, bleiben auch sie im Land und stellen dort ihre politischen Überlegungen an. Die mehrschichtige, weil mehrperspektivische Geschichte der Familie wird zur Geschichte der Palästinenser, informativ und erlebbar, verständlich und prall voll Leben. Nützlicher als viele wissenschaftliche Analysen, ohne diesen jedoch zu widersprechen.

… mit Professionalität erzählt.

Die Wechsel von einer Person, einer Thematik zur andern wirken harmonisch, klug und mit zusätzlichen Aussagen angereichert. Etwa dort wo ein Bruder erzählt, dass er nur noch in die Zukunft schaue, während wir in einem langen Kameraschwenk der Sicherheitsmauer entlang fahren. Auch die Bilder sind voll Informationen, die auf Erfahrung gründen. So sieht man einmal im Hintergrund an der Wand einen Schlüssel hängen, wie er in vielen Palästinenser Familien noch heute aufbewahrt wird, an die Vertreibung erinnert und für eine absurde Hoffnung steht. Farblich sind die Szenen in der Familie und in der Werkstatt in warmen, orange-braunen Tönen gehalten, welche Wärme und Menschenfreundlichkeit ausstrahlen.

Aufschlussreich auch die Montage. Zur Unabhängigkeitsfeier in Israel zeigt der Film Bilder aus dem israelischen Fernsehen eigenen Filmaufnahmen von Sechsjährigen, die unter fachlicher Anleitung mit Maschinengewehren spielen, und mit begeisterten Opas, die ihre Enkel fürs Familienfoto auf Panzer setzen. Schnitt. Elias pflügt den Boden rund um die Olivenbäume in seinem Garten, für ihn ist es der Jahrestag der Nakba, der Vertreibung eines Großteils der Palästinenser aus ihrer Heimat. Viel sagend auch die Illusionslosigkeit des Vaters: «Das Volk der Juden plant seit hundert Jahren, was es heute tut. Die Araber improvisieren, leben ohne Plan nach ihren Stammesgewohnheiten. Es gibt keine Hoffnung.»

«Telling Strings» zeigt und postuliert nicht bloss ein Überleben, sondern ein Leben, in welchem Solidarität, Kreativität und Menschenwürde das Fundament bilden. Dafür legt die Familie Jubran ein beeindruckendes Zeugnis ab.

Die 59-minutige DVD, Originalsprache arabisch, deutsch, französisch und englisch untertitelt, kostet Fr 30.- und ist zu beziehen bei www.artfilm.ch. Sie enthält Bonusmaterial mit Ausschnitte aus einem Konzert von Kamilya im Moods in Zürich vom 23. Juni 2006. Für Veranstaltungen mit der Filmemacherin wende man sich direkt an Anne-Marie Haller: amhaller@hispeed.ch. Weiter Informationen: www.kamilyajubran.com.