The Distinguished Citizen

Ein berühmter Sohn kehrt heim: Mariano Cohn und Gastón Duprat haben am Beispiel eines Literaturnobelpreisträgers im Film «The Distinguished Citizen» durchgespielt, was geschieht, wenn ein berühmter Sohn in seine Heimat zurückkehrt.
The Distinguished Citizen

Daniel Mantovani erhält den Nobelpreis für Literatur

Zum ersten Mal seit vierzig Jahren kehrt der Literaturnobelpreisträger Daniel Mantovani, im Film von Oscar Martinez grossartig gespielt, in seinen Heimatort Salas in der argentinischen Provinz zurück. Was als nostalgische Reise an die Quelle seiner literarischen Inspiration beginnt, wird für den berühmten Autor bald zu einem Höllentrip. «Meine Figuren haben es nie geschafft herauszukommen, ich habe es nie geschafft zurückzukehren», sagte der Preisträger über sein verschlafenes Heimatdorf und sein Werk. Als er zum ersten Mal eine Einladung von seinem Geburtsort annimmt, freut er sich auf das Wiedersehen mit seiner ersten Geliebten, den alten Freunden und Bekannten. Doch die realen Vorbilder für die pittoresken und skurrilen Gestalten in seinen Romanen sind nicht alle zufrieden mit ihrem «Schöpfer». Bewunderung und Stolz auf den frisch ernannten Ehrenbürger schlagen bald um in Unverständnis, Neid und blanken Hass, und als Mantovani von einer jugendlichen Dorfschönheit im Hotelzimmer aufgesucht wird, nimmt das Unheil unerbittlich seinen Lauf.

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Mantovanis Empfang in seiner Heimatgemeinde

Spielfilm über einen berühmten Schriftsteller, der ins Hinterland Argentiniens zurückkehrt – Aus einem Interview mit Mariano Cohn und Gastón Duprat über «The Distinguished Citizen»

Wie kam es zu diesem Projekt?

Gastón Duprat: Unser Drehbuchautor Andrés Duprat schlug Mariano und mir vor, einen Film über eine bekannte Persönlichkeit, in diesem Fall einen Schriftsteller, zu machen, der nach vierzig Jahren Abwesenheit in sein Heimatdorf zurückkehrt. Wir mochten die Idee auf Anhieb, denn wir wussten, dass wir in diesem Rahmen verschiedene Themen behandeln konnten, die mit der argentinischen Gesellschaft zu tun haben, aber auch die speziellen Mechanismen, die in einer Kleinstadt am Werk sind, wenn sie mit dem Ruhm eines der ihren konfrontiert wird.

Warum haben Sie aus Ihrem Helden den ersten argentinischen Literaturnobelpreisträger gemacht?

G. D.: Tatsächlich hat kein argentinischer Schriftsteller, einschliesslich Jose Luis Borges, je den Literaturnobelpreis erhalten. Er wäre mehrere Male beinahe ausgezeichnet worden, aber für die Jury war er wohl zu genial oder zu politisch unkorrekt. Nun ist es plötzlich ein wenig so, als würden wir mit der Figur des Daniel Mantovani eine Lücke füllen, denn für einen Schriftsteller gibt es nichts Prestigeträchtigeres als den Nobelpreis.

Ist «The Distinguished Citizen» ein Porträt der argentinischen Gesellschaft von heute?

Mariano Cohn: Man kann ihn als Porträt der argentinischen Gesellschaft betrachten, aber nicht als endgültiges und ausschliessliches. Ich würde sagen, er gleicht einer Postkarte. Er ist unsere Vision der argentinischen Gesellschaft, durch das Prisma der Bewohner einer Kleinstadt gesehen.

Warum haben Sie die Handlung in einer Kleinstadt fern von Buenos Aires angesiedelt?

G. D.: Weil sie zwangsläufig verschlossener und weniger kosmopolitisch ist. Sie ist der perfekte Schauplatz für eine Geschichte wie die von «The Distinguished Citizen», in der die Rückkehr des örtlichen Wunderkindes zu gewaltigen Spannungen führt. Es stellt sich heraus, dass Daniel Mantovani den Vorstellungen, die sich die Einwohner von Salas von ihm machen, nicht entspricht. Sie wollen ihn weniger für sein Werk als für seinen Ruf ehren. Nicht alle haben seine Bücher gelesen, und wer sie gelesen hat, hat sie nicht unbedingt gemocht. Diese Kluft zwischen den Einwohnern und dem Künstler, zuzüglich des manchmal unangebrachten Verhaltens des letzteren, trägt zu der Welle des Unmuts bei, die das Dorf erfasst.

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Julia provoziert und umzingelt den Schriftsteller

«The Distinguished Citizen» ist darüber hinaus eine grossartige, allgemein gültige Parabel über die Rolle, die Funktion und das Selbstverständnis des Künstlers in der Gesellschaft

Die beiden Produzenten, Drehbuchautoren, Regisseure und Kameramänner machen in ihrem Interview und im Film explizit keinen Hinweis auf eine die lokale Tragikomödie übersteigende, allgemein gültige Bedeutung der Rolle des Künstlers und der Kunst. Die Geschichte handelt in einem konkreten Land, Argentinien, und einem konkreten Städtchen, Salas. Doch weil die Bevölkerung exakt beobachtet und analysiert wurde, entstand in «The Distinguished Citizen» (El ciudadano ilustre) ein Sinnbild für das künstlerische Schaffen allgemein.

In den Fragen an ihn und den Antworten von ihm entsteht ein vielschichtiges Porträt des Schriftstellers, der in einem fünfjährigen Schreibstau steckt. Den ersten aussagenkräftigen Höhepunkt bildet Daniel Mantovanis Nobelpreisrede: Obwohl er sich geschmeichelt fühle, überwiege bei ihm ein bitterer Beigeschmack. «Die einhellige Anerkennung bedeutet für mich direkt und eindeutig den Niedergang eines Künstlers ... Ein Künstler soll hinterfragen, wachrütteln ... Es ist der Stolz, der mich dazu bringt, Ihnen heuchlerisch dennoch zu danken, dass sie das Ende meines kreativen Abenteuers verkündet haben.»

Unzählige Veranstaltungen, Auftritte und Interviews hat er mit seiner Sekretärin Nuria absagt; nur die kurzfristige Einladung in sein Heimatdorf Salas nimmt er an. Dort soll er Ehrenbürger werden und einige Vorträge halten. Doch eigentlich will er lediglich an den Ort zurück, den er mit zwanzig verlassen und vierzig Jahre nicht mehr besucht hat, um jetzt seine Kindheit, Jugend und die Zeit seines Erwachsenwerdens wiederaufleben zu lassen, wovon seine Bücher erzählen.

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Daniel und Irene, kurz vor dem neuen ersten Kuss

Vom umjubelten Star zum verfluchten Judas

Nach der Begrüssung durch die Dorfprominenz trifft er seine erstes Liebe, Irene, jetzt die Frau von Antonio, einem Macho, und bald danach deren Tochter Julia, die ihn gern bei sich im Bett hätte. Sie provoziert ihn mit einem Zitat aus einem früheren Werk, in dem er sich über Leiden und Kunst geäussert hat. Jetzt gibt er ihr eine klare Absage an den «Mythos des leidenden Künstlers». Bei einer öffentlichen Diskussion beschreibt er seinen Beruf weiter: «Ein Schriftsteller ist jemand, dem die Welt, wie sie ist, nicht genügt. Er muss sich neue Sachen ausdenken, um sie in die Welt einzubringen.» Allmählich vervollständigt sich sein Selbstbild als Künstler, das in seiner Radikalität nur wenigen Dorfbewohnern gefällt.

Bald wird die Rückkehr des berühmten Sohnes in seine Heimat zu einem Cabaret, gar zu einer Gruselshow, und Daniel erlebt seine Heimat nochmals anders, als er sie bisher beschrieben hat. «Warum schreiben Sie nicht über schöne Dinge?», fragt eine ältere Frau. Er als berühmter und reicher Mann sei verpflichtet, seinem behinderten Sohn einen Rollstuhl zu kaufen, verlangt ein Vater. Er ziehe ihre Gesellschaft in den Dreck, er sei ein Judas, eine Ratte, protestieren andere. Seine Antworten sind klar und ehrlich: «Es gibt keine Wahrheit, nur Interpretationen ... Ich habe nur Stift, Papier und meine Eitelkeit ... Künstlerisches Schaffen ist unabhängig von Ethik und Moral.» Und schliesslich versöhnlich: «Ich entschuldige mich, dass ich ein Chaos angerichtet habe. Sorgen Sie dafür, dass Salas dieses wunderbare Paradies bleibt.»

Am Schluss der turbulenten Reise in die Vergangenheit gerät er in eine Falle – was ihm auch bei der Suche nach seiner Künstleridentität weiterbringt, weil erst so das Leben auch den Tod und die Ewigkeit umfasst. Erst ganz am Schluss des Films, nach der Argentinien-Reise, bei einer Dichterlesung in Spanien, lächelt Daniel Mantovani zum ersten Mal, der Schreibstau scheint überwunden, von innen heraus das Publikum und uns an.

Regie: Mariano Cohn und Gastón Duprat, Produktion: 2016, Länge: 118 min, Verleih: Xenixfilm