There is no Evil
Die junge Darya im Film, privat die Tochter des Regisseurs
Vier Männer haben sich im Iran mit der Todesstrafe auseinanderzusetzen, jeder auf seine Weise: der Familienvater Heshmat, der als Henker fürs iranische Regime arbeitet; der junge Pouya, der seinen Wehrdienst in einem Gefängnis leistet; der Soldat Javad, der die Zukunftspläne mit seiner Verlobten begräbt; die junge Darya, die ihren Onkel im Iran besucht und brutal mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird.
«Das Böse gibt es nicht». Razieh, Tochter, Heschmat (v. l.)
Vorbemerkung des Regisseurs
«Letztes Jahr sah ich einen meiner Vernehmungsbeamten aus der Bank kommen, als ich in Teheran eine Strasse überquerte. Plötzlich überkam mich ein unbeschreibliches Gefühl. Unbemerkt folgte ich ihm für eine Weile. Nach zehn Jahren war er ein wenig gealtert. Ich wollte ihn mit meinem Handy fotografieren, auf ihn zulaufen, mich ihm offenbaren und ihm wütend all meine Fragen entgegenschreien. Aber als ich ihn genau betrachtete und sein Verhalten mit eigenen Augen beobachtete, konnte ich kein böses Monster entdecken. Wie verwandeln autokratische Herrscher Menschen in funktionierende Rädchen ihrer autokratischen Maschinen? In autoritären Staaten ist der einzige Zweck des Gesetzes die Erhaltung des Staates und nicht die Erleichterung und Regulierung der Beziehungen zwischen den Menschen. Ich komme aus einem solchen Staat. Und angetrieben von solch persönlichen Erfahrungen wollte ich Geschichten erzählen, die die Frage aufwerfen: Haben wir als verantwortungsbewusste Bürger, als Bürgerinnen eine Wahl, wenn wir die unmenschlichen Befehle von Despoten zu vollstrecken haben? Inwieweit sind wir als Menschen für die Ausführung dieser Befehle verantwortlich zu machen? Und was macht diese Zerrissenheit zwischen Liebe und moralischer Verantwortung auf der Gefühlsebene mit uns, wenn wir mit dieser autokratischen Maschinerie konfrontiert werden?»
«Du schaffst es». Pouya mit Kollegen
Unter erschwerten Bedingungen gefilmt
Schwierige Bedingungen seien der Kreativität förderlich, heisst es gelegentlich bei uns, wo so ziemlich alles gesagt werden darf. Die umgekehrte Logik erleben Künstler in Diktaturen, wo sie just weil sie die Umstände verändern wollen, beispielsweise Filme drehen. Das trifft für den Iran zu, wo Mohammad Rasoulof, der 1972 in Schiras geborene Drehbuchautor, Regisseur und Produzent, 2017 «A Man of Integrity» und 2020 «Here is no Evil» realisiert hat.
Einen Langspielfilm hatte man ihm nicht erlaubt; also drehte er vier Kurzfilme und hängte sie aneinander: Variationen über staatlich verordnetes Töten. Rasoulof entführt uns langsam und in langen Einstellungen in den Zustand persönlicher, moralischer Betroffenheit: zwingend, unausweichlich. «Here is no Evil» und jeder Teil sind für mich Filme, die vom Ende her zu verstehen sind. Ich entdeckte vieles erst nach der zweiten Vision, bei welcher ich mich von den Klängen (Musik Yûsuke Hayashi), den Bildern (Kamera Ashkan Ashkani), dem Rhythmus (Montage Mohammadreza Muini und Meysam Muini) und dem alles überlagernden Engagement Mohammad Rasoulofs mitnehmen liess.
«Geburtstag»: Javad
Vier Kurzfilme, zu einem Langfilm verwoben
«Das Böse gibt es nicht» Heschmat, ein vorbildlicher Ehemann und Vater, führt ein friedliches Leben mit seiner Frau Razieh und seiner kleinen Tochter, braucht aber Tabletten zum Einschlafen. Er verdient genug Geld, um seiner Familie ein angenehmes Leben zu bieten, fühlt sich jedoch in der täglichen Routine gefangen. Um drei Uhr nachts steht er auf und fährt zur Arbeit. Im Blick seiner Augen spüren wir, dass diese Familie mit einem Geheimnis lebt.
«Du schaffst es» Pouya hat eben seinen obligatorischen zweijährigen Militärdienst angetreten. Mit einer ehrenhaften Beurteilung kann er einen Reisepass beantragen und mit seiner Freundin Tahmineh den Iran verlassen. Nach einer Woche Grundausbildung steht er vor dem Dilemma zwischen seinem Traum und seiner Überzeugung, über das er auch mit den andern Soldaten besprochen hat. Die Flucht gelingt, und «Bella ciao» klingt aus dem Autoradio.
«Geburtstag» Der Soldat Javad bekommt drei Tage Urlaub. Er reist in eine kleine Stadt nahe dem Kaspischen Meer. Um seine Verlobte Nana an ihrem Geburtstag zu überraschen, hat er einen Ring dabei und will ihr während der Feier einen Antrag machen. Bei seiner Ankunft erfährt er, dass die Feier wegen des Todes eines engen Freundes abgesagt ist. Darüber entsteht eine politische Diskussion. Das Geheimnis um den Tod des Fremden aber zerstört ihre Zukunft.
«Küss mich» Ein sympathisches Ehepaar mittleren Alters, Bahram und Zaman, leben auf dem Land, wo sie Honigbienen aufziehen. Auf Wunsch von Bahram und mit Zustimmung von Raman kommt ihre Nichte Darya aus Deutschland und verbringt ein paar Tage bei ihnen. Sie bemerkt, dass Bahram todkrank ist, während Zaman ihr eine Wahrheit eröffnet, die sie aufwühlt und sofort abreisen lässt. Auf dem Weg aber bleibt ihr Wagen stehen.
«Küss mich». Darya und Bahram (v. l.)
Goldener Bär – eine SMS – eine Skype-Botschaft
Nach China ist der Iran wohl das Land, das die Todesstrafe am häufigsten vollstreckt. In diesem wie in anderen autokratischen Regimen werden Menschenrechte für Gottesrechte missachtet. In «There is no Evil» geht es nicht um die Frage, ob die Todesstrafe rechtmässig oder sinnvoll ist. Die vier Männer üben ihren Beruf mehr oder weniger im üblichen Rahmen aus. Verbindungen zwischen den einzelnen Kurzfilmen stellt der Regisseur in Anspielungen her und deutet im Ansatz die emotionalen Folgen, die die Tätigkeit auf die Einzelnen und die Gesellschaft ausübt. Keine flammende Anklage also, sondern ein genau beobachtetes, fast dokumentarisches Drama. In der «Vorbemerkung» stellt Rasoulof die Frage, wie ein Mensch, der eine solch schreckliche Arbeit ausführt, einen normalen Alltag leben kann? Antworten gibt er keine, zeigt lediglich, was hinter der Fassade eines autokratischen, inhumanen Regimes abläuft. Wer bei diesem Film an Hanna Arends Diktum von der «Banalität des Böses» oder an Erich Fromms Buch «Über den Ungehorsam» denkt, liegt wohl nicht falsch, um die richtigen Antworten zu finden.
«There is no Evil» lief an der Berlinale 2020 als letzter Film des Wettbewerbs. Im Saal spürte man, dass viele im Publikum sicher waren, nun den Siegerfilm gesehen zu haben. Und er erhielt den Goldenen Bären, mit folgender Jury-Begründung: «Vier Geschichten, die das Netz eines autoritären Regimes zeigen, verweben sich unter gewöhnlichen Menschen und ziehen sie in den Krieg, in die Unmenschlichkeit. Ein Film, der Frage zu unserer eigenen Verantwortung und zu Entscheidungen stellt, die wir alle im Leben treffen.» Mohammed Rasoulof war nicht im Kino, er darf nicht reisen, seine Tochter nimmt den Bären für ihn entgegen. Nach der Preisverleihung erhielt er eine SMS aus Teheran, er habe nun die angekündigte Gefängnisstrafe anzutreten. Via Skype meldete er sich: «Warum sollte ich weglaufen? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Wenn jemand das anders sieht und findet, ich müsste zur Strafe meiner Rechte beraubt werden, dann übernehme ich doch nicht in vorauseilendem Gehorsam dessen Arbeit.» Und an anderer Stelle meinte er: «Natürlich habe ich Hoffnung. Die speist sich aus der Gewissheit, dass das Leben schön ist.»
Regie: Mohammad Rasoulof, Produktion: 2020, Länge: 150 min, Verleih: trigon-film.org