Vamos

Midlife-Chancen: In «Vamos» lässt Silvia Häselbarth-Stolz vier Frauen und Männern um die 50 über Wendepunkte ihres Lebens sinnieren. Ihre Erzählungen handeln von Abschied und Neuanfang und kann Mut machen.
Vamos

Die Protagonisten auf dem Weg

2012 hat Silvia Häselbarth-Stolz «Drei Brüder à la carte – wenn behindert sein normal ist» ein besonderes Paar porträtiert, 2016 in «Falten – Eine Auseinandersetzung mit dem Älterwerden» fünf Männer und Frauen aus ihrem Leben erzählen lassen und 2019 im Dokumentarfilm «Vamos – Ein neuer Weg» zwei Frauen und zwei Männer um die 50, die an schwierigen Lebensübergängen stehen, das Wort erteilt. Mit Offenheit, Feingefühl und Anteilnahme tastet sich die Regisseurin an die Protagonisten heran, teils sprechen diese zu ihr, teils mit andern. Es geht um Zaudern vor der Veränderung, Schmerzen beim Abschied oder Unsicherheit beim Neustart. Welche Lebensumstände, welche Weggenossen unterstützen die Vier? Wie und wo finden sie neue Perspektiven? Tragen sie ihre neuen Lebensentwürfe? Von solchen und ähnlichen Fragen handelt «Vamos», unterhaltsam, mit gekonnt montierten Sequenzen, die aus dem Leben gegriffene Situationen authentisch wiedergeben. Der Film bietet mit seinen vier Porträts Midlife-Chancen, anstelle von Midlife-Krisen, verschafft da oder dort Durchblicke und macht Mut.

Die Protagonisten und ihre Lebenwenden

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Ralph Tobler, 55, wohnt im Jura, ist Dachdecker
Der alleinerziehende Vater Ralph ringt gelegentlich mit den Worten, versucht besonnen zu formulieren. Vor ihm ist das leere Nest, das er nach Jahren des Zusammenlebens mit seinen zwei Kindern verlassen wird. Und da ist die Stadt Luzern, in der er sich nie richtig wohlgefühlt, aber mit den Kindern eine schöne Zeit erlebt hat. Sein Wendepunkt, der Abschied von der Familienzeit, zwingt ihn, das Alleinsein auszuhalten und einen neuen Weg zu suchen.

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Pascale Ceresola, 54, wohnhaft in Luzern, ist Hebamme
Ihr Wendepunkt ist der Moment, als die lebensfrohe Pascale mit 51 Jahren in die Wechseljahre kommt und in dieser schweren Zeit völlig überrascht von ihrem langjährigen Lebensgefährten für eine Junge verlassen wird. Schafft sie es, den Umstand zu überwinden, dass sie von ihrem Ex-Partner nie einen Grund für das Verlassen gehört hat? Kann sie Abschied nehmen und Neues in Angriff nehmen, ihren persönlichen Wendepunkt finden und neue Wege beschreiten.

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Marcello Pirrone, 49, wohnt in Luzern, ist Schreiner
Marcello, halb Schweizer, halb Italiener, arbeitet hauptsächlich als Schreiner, nebenher als Imker. Sein Beruf macht ihn zunehmend unzufriedener. Er entschliesst sich, seinem wachsenden Unglück entgegenzutreten, indem er sein Arbeitspensum reduziert und sich von materiellen Gütern trennt, in der Überzeugung, dass dies dazu beitragen könnte, glücklicher zu werden. Dafür tauscht er sein grosses Wohnatelier gegen einen kleinen Bauwagen in einer Wagenburg ein.
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Jacqueline Egger, 55, wohnt in Littau, ist Sozialarbeiterin
Mit 14 sagte ihr der Arzt, dass sie irgendwann erblinden werde, 27 Jahre lang lebte sie mit dieser Gewissheit und sieht dann ab 41 nichts mehr. Wie die unternehmungslustige Frau sich mit dem Verlust arrangiert und ihre Lebensfreude behält, beeindruckt. Sie erzählt, wie sie sich während fünf Jahren ihr Leben privat und beruflich ohne das Augenlicht eingerichtet hat. Ein zweiter schmerzhafter Bescheid hat sie vor zwei Jahren getroffen: die Diagnose Brustkrebs.

Vamos.Titel
Die Crew: Peter Appius an der Kamera, Fredy Keil am Ton und die Regisseurin Silvia Häselbarth-Stolz

Aus einem Interview mit der Regisseurin


Dem Titel «Vamos» (spanisch: Wir gehen) haftet etwas Ermutigendes, ja Kämpferisches an. Dem Tennisstar Rafael Nadal ist es von den Lippen zu lesen, wenn er mit geballter Faust seinen Punkt feiert. Trifft das auf deine Protagonisten auch zu? Die Menschen in meinem Film sind eher bescheidene, leise Kämpfer. Sie haben auf ihrem Weg, wenn man beim Nadal bleiben will, kein Publikum, das sie in einem Tief klatschend motiviert oder sogar verehrt. Sie müssen ihren Weg allein gehen, ohne Support eines Publikums und kämpfen auch nicht für Punkte auf einer ATP-Liste, sondern kämpfen für Grundlegendes, nämlich darum, nach einer Krise wieder Sinn und Zufriedenheit im Leben zu finden.

Man hört immer wieder, dass ab 50 ein Lebensabschnitt beginnt, in dem man der eigenen Endlichkeit bewusst und daher etwas gelassener wird. Trifft das auch auf deine Protagonisten zu? Während der Dreharbeiten unterbreitete mir mein 21-jähriger Sohn, dass er bald ausziehen werde. Nun stelle man sich vor, ich bin mit Leib und Seele Mutter und werde nun gezwungen, irgendwie loszulassen. Das hat mich durchgeschüttelt, und ich wusste, da musst du jetzt durch. Ralph, der Vater im Film, der seine Kinder ebenfalls gehen lassen muss, war mir in dieser Zeit ein Vorbild, ohne dass er es wusste. Seine Taten, Worte, Überlegungen und seine Ruhe hatten mir beim Loslassen meines Sohnes geholfen. Es ist so, dass mir bei allen Protagonisten aufgefallen ist, dass sie eine gewisse Gelassenheit an den Tag legten, trotz Krise und Kampf, die sie hatten. Ich denke, das kommt von der Lebenserfahrung, die sie ahnen liess, dass ein neuer Weg schliesslich genauso zu gehen ist wie der alte.

Deine Nähe zu den Protagonisten ist spürbar und ehrlich. Gab es Momente, wo dir etwas mehr Distanz lieb gewesen wäre? Einen der Protagonisten kenne ich von früher, da gab es während des Drehs eine zu grosse Nähe. Als ich dann plötzlich als Regisseurin vor ihm stand, war das eine komische Situation und es gab zuerst Widerstand. Da mussten wir zuerst ein bisschen die Platz- und Spielaufstellung klären, wenn wir bei Nadal bleiben. Aber von da an ging es wunderbar. Ich bin aber gerade bei ihm froh, dass wir jetzt, weg vom Platz, an früher anknüpfen können. Sonst hatte ich keine Mühe mit der Nähe. Ein Dokumentarfilm bedeutet immer grosse Nähe. Auch die Filmcrew, der Kameramann und der Tonmeister sind stets nahe an den Geschichten der Protagonisten, und die Protagonisten müssen auch zu ihnen Vertrauen aufbauen, nicht nur zu mir. Ich arbeite mit Peter Appius an der Kamera und Fredy Keil am Ton seit meinem ersten Film zusammen.
 
Wie hast du diese Menschen entdeckt? Gab es Kandidatinnen und Kandidaten, die dich mehr oder weniger interessierten? Das kam eines nach dem andern zusammen. Ralph lebte in der gleichen Strasse wie ich und ich fand sein Thema, das Loslassen der Kinder, interessant und fragte ihn, ob er vor der Kamera diesen Prozess durchmachen möchte und wir ihn ein Jahr lang begleiten dürfen. Er sagte zu. So kamen die anderen drei ebenfalls mit ihren Geschichte auf mich zu, entweder direkt oder über eine Drittperson. Interessiert haben mich alle vier.

Regie: Sivamos Silvia Häselbarth-Solz lvia Häselbarth-Stolz, Produktion: 2020, Länge: 90 min, Verleih: Silvia Häselbarth-Stolz