Violette

Schreiben, um zu leben: Violette Leduc, unehelich und nicht akzeptiert, sucht ihren Weg ins richtige Leben und in die Literatur – im Dokumentarspielfilm «Violette» von Martin Provost.

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Violette Leduc und Simone de Beauvoir in ihrer schwierigen Beziehung

Verkannt und ungeliebt, ungewollt und missbraucht, erlebt sich Violette Leduc (1907 – 1972) zeitlebens. Die Nachkriegszeit überlebt sie in der Scheinehe mit dem schwulen Maurice Sachs in ärmlichen Verhältnissen im Norden Frankreichs. Dann zieht sie nach Paris und lernt im Künstlerquartier Saint Germaine-des-Prés die charismatische Simone de Beauvoir kennen. Die Begegnung mit ihr motiviert sie, die Last der Befindlichkeiten und Traumata ihrer Jugenderlebnisse zu Papier zu bringen. 1946 erscheint darüber ihr erstes Buch «L'asphyxie», 1948 das zweite, «L'affamée», in denen sie schonungslos ihr Innenleben öffentlich macht. Bald lernt sie auch Jean Genet, Jean Paul Sartre und Albert Camus kennen und wird von ihnen unterstützt.

Kaum eine andere Schriftstellerin hat mit solch schonungsloser Offenheit ihre sexuellen Sehnsüchte und Erniedrigungen beschrieben wie sie. In einem eigenwilligen Gemisch aus lyrischen Passagen von barocker Bilderfülle und realistischen Beschreibungen steigt sie in die Abgründe ihres Wesens: ihre rastlose, meist vergebliche Suche nach sexueller Erfüllung, ihre Unfähigkeit zu einer gleichberechtigten Liebe, ihre Jagd nach Geld und Luxus und das Leiden an ihrer vermeintlichen Hässlichkeit sowie das lebenslange Gefühl tiefer Einsamkeit.

Obwohl ihr kommerzieller Erfolg zunächst ausbleibt, schreibt sie weiter, leidenschaftlich und schonungslos, über ihre intimsten Erlebnisse. 1964 erscheint ihre Autobiografie «La Bâtarde», für welche de Beauvoir die Einleitung geschrieben hat, und die für den Prix Goncourt nominiert wird. Am 28. Mai 1969 stirbt sie im Alter von 65 Jahren an Brustkrebs. Gegenwärtig – wie eine Fortsetzung ihrer Diskriminierung – ist kein einziges ihrer Werke in deutscher Übersetzung erhältlich.

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Vilette im Preise der Pariser Kulturelite

Eine filmische Biografie mit Tiefgang

2008 schuf der französische Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur Martin Provosts mit «Séraphine» und Yolande Moreau in der Titelrolle das preisgekrönte Porträt der verkannten Malerin naiver Kunst. Ein Bekannter machte Provost auf die ebenso verkannte Schriftstellerin Violette Leduc aufmerksam. Er entschied sich sogleich, auch über diese ein Filmporträt zu realisieren, mit Emmanuelle Devos als Violette Leduc und Sandrine Kiberlain als Simone de Beauvoir. Séraphine und Violette, zwei grosse Frauen, die in einer von Männern dominierten Welt ihren Weg suchten und mit viel Leid und Entbehrung überleben!

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In einer belastenden Scheinehe mit Maurice Sachs

Ein Werk mit vielen Deutungen

Das dramatische, erlebnisreiche, meist schmerzvolle Leben von Violette Leduc erzählen, das macht der Film: ausführlich und eindringlich, nachvollziehbar und berührend. Wer Details sucht, findet diese im Dokument «Einige Eckdaten aus dem Leben von Violette Leduc» am Schluss. Wer den Entstehungsprozess dieses sensiblen und gleichzeitig exakt beschreibenden Films verstehen will, findet diesen im Beitrag «Aus einem Interview mit dem Regisseur Martin Provost» ebenfalls am Schluss. Hier soll eingegangen werden auf die Botschaften der Lebensgeschichte von Violette Leduc, wissend, dass jede Person im Kinosaal, gemäss biografischem Standpunkt, geistiger Kapazität und aktueller Befindlichkeit die Geschichte verschieden wahrnimmt. Nachfolgend, etwas zufällig zusammengestellt, ein halbes Dutzend Vorschläge, an das Werk heranzutreten:

Der Film «Violette» schildert anschaulich das intellektuelle und literarische Paris der 50er- und 60er-Jahre, der Zeit, in welcher die Stadt das Zentrum für Kunst, Literatur und Philosophie war. Und selbst in dieser fortschrittlichen Welt, was oft übersehen wird, war es für Frauen schwer, ihr Leben menschenwürdig zu leben. Diesen gesellschaftlichen Tatbestand illustrieren Violette Leduc und ihre Mentorin Simone de Beauvoir exemplarisch.

«Es gibt kein richtiges Leben im falschen», schrieb Theodor W. Adorno in seinen «Minima Moralia». Violettes Leben verkörpert in ihrer lebenslangen Suche sozusagen diesen Satz vom richtigen und falschen Leben: individuell und gesellschaftlich. Sie kämpft für sich und für andere gegen das Leben Vernichtende der Männer, gegen die Lust- und Leibfeindlichkeit der Kirche und anderer Institutionen.

In einer Schlüsselszene des Films versucht Violettes Mutter Berthe, hochschwanger, ihren Fötus zu töten. Dafür macht die Tochter später der Mutter den radikalen Vorwurf, sie nicht gewollt und dennoch in die Welt gesetzt zu haben. Eine Situation, die ganz dem Geist des Existenzialismus entspricht, wie ihn Sartre und Camus formulieren und wie Alberto Giacometti ihm Gestalt verleiht.

Schreibend das erlittene Leid in Worte zu fassen und so zu verarbeiten, war ihr Schicksal. Am Anfang lieblos dazu gedrängt durch ihren Scheinehemann, dann anteilnehmend und erfolgreich, wenn auch nicht ohne Konflikt, durch Simone de Beauvoir gefördert. Schreibend die Vergangenheit nochmals zu leben, ermöglicht ihr, wenigstens im Ansatz, sich eine einigermassen lebenswerte Zukunft zu schaffen.

Violette Leduc hat ihre Befindlichkeiten, Schmerz und Verzweiflung an der weiblichen Sexualität wohl als Erste in den öffentlichen Diskurs gebracht: authentisch und überzeugend, schockierend und provozierend. Mit ihrem Coming-out wird sie vielleicht eine Schutzheilige nachgeborener Frauen und Männer, Lesben, Schwulen und anderer Diskriminierten.

Wenn zur «Kunst des Liebens», neben Geben und Nehmen, auch Sich-Aufgeben gehört, so fiel gerade dies ihr, nach soviel Missbrauch und Erniedrigung, schwer. Das zeigt sich in der Sequenz gegen Ende des Films bei ihrer Begegnung mit einem jungen Handwerker. Sie kontrolliert sich und ihn, wie sie es von ihrer Mutter wohl im Übermass erfahren hat, und verhindert so eine wirkliche Begegnung und eine liebende Vereinigung.

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An den Rand gedrängt und diesen überschreitend

Zur Vertiefung: 1. Einige Eckdaten des Lebens von Violette Leduc

1907: Am 7. April, Geburt von Violette Leduc in Arras. Ihre Mutter Berthe Leduc ist Dienstmädchen bei den Debaralles, einer bürgerlichen, protestantischen Familie aus Valenciennes

. Sie wird von André Debaralle, dem tuberkulösen Sohn, schwanger. Berthe verbirgt ihre Schwangerschaft und beschliesst, das Kind alleine in Arras zur Welt zu bringen, wo sie eine kleine Stelle als Verkäuferin findet.

1913: Berthe Leduc kehrt zusammen mit ihrer Mutter in einen Vorort von Valenciennes zurück. Die beiden Frauen ziehen das Mädchen gross, ohne ihm die Identität seines Vaters zu verheimlichen. Dieser besucht sie ab und zu, ebenso wie die Grosseltern väterlicherseits, die ihr die nötigste finanzielle Unterstützung zukommen lassen. Sie legen einen Geldbetrag für die Volljährigkeit von Violette zurück und vermachen ihr eine Rente, die sich aus den Zinsen dieses Betrags ergibt. Berthe lernt in Valenciennes Ernest Dehous kennen, der mit antiken Möbeln handelt.

1920: Berthe und Ernest Dehous heiraten. Die Familie bezieht ein gutbürgerliches Haus in Valenciennes, Violette wird auf eine Privatschule geschickt.

1923: Geburt von Michel Dehous, dem Halbbruder von Violette.

1924 – 1928: Am Collège von Douai, das Violette als Internatsschülerin besucht, hat sie zwei weibliche Liebschaften: eine mit Isabelle P., mit der sie den Schlafraum teilt, und eine mit Hermine, einer Aufseherin. Beide werden entdeckt. Es kommt zum Skandal. Hermine wird entlassen. Violette folgt ihrer Mutter und ihrem Stiefvater nach Paris. Dort wohnen sie eine Weile am Place Daumesnil, dann zieht Violette mit Hermine zunächst in ein Hotel, danach teilen sie sich kleine Wohnungen.

1928 – 1932: Violette arbeitet in der Werbeabteilung von Plon. Dann bekommt sie bei der Filmproduktion Synops unter der Leitung von Denise Piazza Batcheff eine Stelle als Telefonistin.

1931: Im Kino «Le Marivaux» lernt sie den Handelsvertreter Jacque Mercier, genannt Gabriel, kennen. In einem Taxi haben sie einen ersten sexuellen Kontakt, trotz gegenseitiger Anziehung führen sie ihre Beziehung nicht weiter. Er weiss von Hermines Existenz, aus Liebe akzeptiert er sie dennoch. Ein paar Jahre lang begleitet er die beiden als Schatten und Zuschauer.

1935: Hermine verlässt Violette, die wieder zu ihrer Mutter zieht. Violette lernt Maurice Sachs kennen. Obwohl sie weiss, dass er homosexuell ist, verliebt sie sich in ihn. Er ist Schriftsteller und Abenteurer, mit Cocteau, Jacques Maritain und Gaston Gallimard befreundet, und schlägt sich mit Kunsthandel, Drehbüchern, Theaterstücken, Vorträgen und Übersetzungen durch.

1939: Zufällig läuft Violette Gabriel vor Notre Dame über den Weg. Er ist Fotograf geworden. Sie werden ein Liebespaar und heiraten einen Monat später. Sie ziehen in die Rue Paul Bert 20 im 11. Arrondissement und trennen sich nach ein paar Monaten wieder. Violette ist schwanger, weigert sich aber, das Kind zu behalten. Von Maurice Sachs ermuntert, schreibt sie Kulturreportagen, Artikel über Theater und Mode und verfasst Erzählungen. Der Modeschöpfer Lucien Lelong ist von ihren Reportagen begeistert und bestellt bei ihr Werbetexte. Ebenso Jacques Fath. Beide schenken ihr Kleider und Hüte.

1942: Während des Krieges flieht sie mit Maurice Sachs nach Anceins in der Normandie. Seit ein paar Monaten lebt sie von Artikeln, die sie an «Paris Soir» und Modezeitschriften wie «Elle» verkauft. Man beauftragt sie, Propagandatexte für Frauen zu verfassen, deren Männer an der Front sind. Maurice Sachs, der ihre Klagen über ihre Kindheit nicht mehr hören kann, schlägt ihr vor, «L Asphyxie» zu schreiben. Jeden Tag setzt sie sich zum Schreiben unter einen Apfelbaum. Um zu überleben, beginnt sie auf dem Schwarzmarkt zu handeln. Sachs besorgt ihr Adressen reicher Kunden. Ein paar Monate später geht er nach Deutschland, von wo er nicht mehr zurückkehrt. Sobald sie «L Asphyxie» vollendet hat, gibt sie das Manuskript dem jungen Philosophen Yvon Belaval zu lesen, der ihr daraufhin zum ersten Mal von Simone de Beauvoir erzählt. Dank des Schwarzmarktes geht es Violette nicht schlecht: Sie verschickt und vertreibt kiloweise Butter und Fleisch.

1944: Sie wird von Gendarmen festgenommen. Um freizukommen, denunziert sie ihre Zulieferer. Sie zieht wieder nach Paris, wo sie zunächst bei Alice Cerf und dann alleine in der Rue Paul Bert 20 wohnt. Zum ersten Mal sieht sie Simone de Beauvoir im «Café de Flore». Nach dem Krieg liest Alice Cerf das Manuskript von «L Asphyxie» und gibt es Simone de Beauvoir weiter, die begeistert ist und Violette kennenlernen will. Von nun an trifft Violette Simone de Beauvoir regelmässig und verliebt sich in sie. Diese ist sich bewusst, in Violette eine unerwiderte Liebe entfacht zu haben, und ermuntert sie dazu, auch über dieses Thema zu schreiben. Violette verfasst «L Affamée», das 1948 bei Gallimard erscheinen wird.

1945/1946: Sie handelt weiterhin auf dem Schwarzmarkt. Zusammen mit ihrem Halbbruder Michel Dehous wird sie ein zweites Mal erwischt. Sie lässt sich von Gabriel scheiden, der fortan mit einer anderen Frau zusammenlebt. Aus freien Stücken trifft sie Hermine wieder, von deren Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit sie sich erniedrigt fühlt.

1946: Publikation von «L Asphyxie» durch Camus in der Reihe «Espoir» bei Gallimard. Begegnung mit Jean Genet.

1948: Publikation von «L‘ Affamée», ebenfalls bei Gallimard. Jean Genet, der sie bewundert, stellt ihr den reichen homosexuellen Sammler Jacques Guérin vor. Sie überwirft sich mit Genet, der ihre aufdringliche Exaltiertheit nicht erträgt. Doch sie geht eine engere Bindung mit Jacques Guérin ein, der als Freundschaftsritus sie zu seinen wöchentlichen Abendessen einlädt, die Violette aber beklemmen. Ihre Frustration inspiriert sie zum Buch «Vieille fille et le mort».

1951: Die Liebe, die sie für Simone de Beauvoir empfindet, ist so unerträglich, dass letztere Violette rät, die Sommerferien im Süden Frankreichs zu verbringen, während sie selbst nach Norwegen reist. Sie schreiben sich regelmässig in aller Freundschaft. In der Provence, auf den Spuren Van Goghs, in dessen Wahn sie sich wiedererkennt, entdeckt Violette ihre Liebe zur Natur. Ihre Beziehung zu Jacques Guérin wird immer schwieriger. Er bietet ihr die Gelegenheit, aus dem Teil ihres Romans «Ravages», der der Zensur zum Opfer gefallen ist, das nur scheinbar neue Manuskript von «Thérèse et Isabelle» zu machen, in dem sie sich an ihre Jugendliebe als Internatsschülerin erinnert und zum Schreiben nach Spanien geht. Nach ihrer Rückkehr verlangt Violette, sofort bezahlt zu werden, und fordert das Geld in Jacques Fabrik in Puteaux ein.

1955: Erscheinen «Ravages» bei Gallimard in zensierter Fassung. Von ihrem Misserfolg und ihrem Stolz isoliert, verfällt Violette in einen Wahnzustand, der Simone de Beauvoir Angst einjagt.

1956: Sie unterzieht sich in Versailles einer Schlafkur und erlebt eine traurige Genesungszeit in «La Vallée aux Loups», wo sie «La vieille fille et le mort» verfasst und von Jacques Guérin besucht wird.

1957/1958: Ihre Krankheit dauert bis zum Ende des Winters an. Sie beginnt mit den Vorarbeiten zum Buch «La Bâtarde» und willigt ein, sich einer Analyse zu unterziehen. Eine Leserin, die sie 1957 in «La Vallée aux Loups» besucht hat, schreibt ihr aus Marseille. Durch sie entdeckt Violette das Dorf Faucon im Departement Drôme. Unter zunächst schwierigen Bedingungen vermietet ihr eine Bauersfrau eine Art Schweinestall, der aber auch angenehme Seiten hat, nämlich den Blick auf den Mont Ventoux. Violette lässt sich dort nieder. In einem Olivenhain schreibt sie den Roman «La Bâtarde», der sie berühmt machen wird.

1964/1972: Aufsehen erregende Publikation von «La Bâtarde», mit einem Vorwort von Simone de Beauvoir.

1970: Es erscheint der zweite Band, «La Folie en tête», in dem sie von ihrer Begegnung mit Jean Genet, von ihrer Liebe zu Jacques Guérin und ihrem Verfolgungswahn schreibt.

1972: Am 28. Mai stirbt sie, nach Operationen ihres Brustkrebses im Krankenhaus von Avignon, in ihrem Haus in Faucon, mit 65 Jahren.

1973: Posthum erscheint der dritte Band von «La Chasse à l’amour», in dem sie von ihrer psychiatrischen Behandlung erzählt. Ihr Lebensende ist ebenso widersprüchlich wie der Lebensabschnitt, auf den sich der Film bezieht. Denn ihr skandalträchtiger Erfolg befreit sie von der Anonymität. Sie nimmt an Fernsehsendungen teil, geht viel aus, taucht in Filmen auf, schreibt auf Bestellung Artikel über Brigitte Bardot und über Dreharbeiten. Ihr Roman «Thérèse et Isabelle» wird verfilmt, sie veröffentlich den erotischen Text «Le Taxi». Acht Monate nach Violette stirbt Ihre Mutter Berthe, kurz vor der Publikation von «La Chasse à l’amour».

1974: Tod von Isabelle

1986: Tod von Simone de Beauvoir und Jean Genet

1992: Tod von Hermine

2000: Tod von Jacques Guérin

Zusammengestellt von René de Ceccatty, leicht gekürzt von HS

Zur Vertiefung: 2. Aus einem Interview mit dem Regisseur Martin Provost

 

Wie haben Sie Violette Leduc entdeckt?
Durch René de Ceccatty, den ich 2007 kennengelernt habe. Ich schrieb gerade am Drehbuch für «Séraphine». René sagte zu mir: «Sie machen einen Film über Séraphine, aber kennen Sie Violette Leduc?» Ich hatte nichts von ihr gelesen, kannte nur ihren Namen. Er gab mir einen unveröffentlichten Text, den Leduc über Séraphine de Senlis geschrieben hatte, und der damals von «Les Temps Modernes» abgelehnt worden war. Der Text war von erstaunlicher Hellsichtigkeit und Schönheit. René schenkte mir auch die Biografie, die er über Violette geschrieben hatte. Ich las sie und verschlang dann «La Bâtarde«, «Trésors à Prendre» usw. Ich sagte zu René: «Man muss einen Film über Violette machen.» So entstand die Idee eines Diptychons. Für mich sind Séraphine und Violette Schwestern. Es ist verblüffend, wie sehr sich ihre Geschichten ähneln.

In Ihrem Film zeigen Sie Violette ganz ungeschminkt, in einer intimen Wahrhaftigkeit, von allen anrüchigen Klischees befreit, die ihrem Ruf als

Schriftstellerin anhafteten.
Je mehr ich mich mit ihr beschäftigte, desto erschütterter war ich, denn sie birgt Geheimnisse, ist zerbrechlich und verletzlich, während sie mich als öffentliche Person, die vor allem nach den 60er-Jahren berühmt wurde und sich verrufen und extravagant gab, weniger berührte. Das war nur Fassade. Ich wollte mich der wahren Violette nähern, die nach Liebe sucht und sich zum Schreiben in grosser Einsamkeit verschliesst. Das Leben meinte es nicht gut mit ihr. Man nannte sie eine Nervensäge. Das reichte mir nicht. In meinen Augen war sie sehr verunsichert und sehr einsam, im Widerstreit mit sich selbst, aber auf der Suche. Diese Unsicherheit und diese Einsamkeit sind für mich ihre Hauptantriebskräfte.
Vom Risiko, das jeder Künstler, sei er nun Maler, Schriftsteller oder Regisseur, eingeht, ist selten die Rede. Meistens sieht man den Erfolg erst, wenn er eintritt. Wenn man diesen Weg dauerhaft einschlagen will, muss man einen gewissen Leichtsinn, aber auch viel Mut und Durchhaltevermögen aufbringen. Mit der Zeit begreift man, dass die Einsamkeit eine äusserst fruchtbare Verbündete ist, ebenso unverzichtbar wie die Stille. Man wird auf sein inneres Selbst zurückgeworfen, das unaufhörlich wächst und sich entwickelt, aber manchmal braucht man ein ganzes Leben, um das zu begreifen.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, den Film in Kapitel einzuteilen, so als würde man ein Buch öffnen?
Das kam so nach und nach. Mir wurde klar, dass die Folge von Begegnungen, die Violettes Werdegang begleiteten, manchen ihrer Bücher oder wesentlichen Ereignissen in ihrer Entwicklung entsprach. Beim Schnitt schälte sich das deutlich heraus. Was blieb, waren die Menschen, die wichtig gewesen waren, und so widmete ich das vorletzte Kapitel dem Dorf Faucon in der Provence, wo sie die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hatte.

Ihre Mitmenschen, der Ort, an dem sie ihr Haus kaufte, das Buch, das ihren Erfolg begründete. Der Film zeigt uns die Laufbahn einer echten Heldin, bis hin zu ihrer Befreiung.
Ja, ich wollte aus Violette eine Heldin machen, und ich wollte, dass im Film alle für ihre Geschichte wesentlichen Personen auftreten, Personen, von denen sie sich ebenfalls befreien muss. Um erwachsen zu werden, muss man sich auch von allem lossagen können, was einem bei seiner Entwicklung geholfen hat. Violette, die zunächst von ihrer Mutter, dann von Simone de Beauvoir abhängig war, befreit sich aus diesen Abhängigkeiten, indem sie «La Bâtarde» schreibt. Deshalb taucht das Kapitel über Violettes Mutter Berthe so spät im Film auf. In diesem Moment ist der Konflikt auf seinem Höhepunkt und kann also aufgelöst werden.

Sie zeigen deutlich Berthes Fehlverhalten, aber auch ihren Willen, sich um ihre Tochter zu kümmern.
Berthe ist eine zentrale Figur des Films, eine zentrale Figur in Violettes Leben, denn diese liebt sie ebenso sehr, wie sie mit ihr hadert, weil sie sie in die Welt gesetzt hat. Berthe war keine schlechte Frau. Aber zweifellos war sie keine gute Mutter (Violette wurde erst im Alter von zwei Jahren beim Zivilstandsamt angemeldet), wobei ich mir über die Rolle der guten oder schlechten Mutter viele Gedanken mache. Das will nicht viel heissen. Berthe hat getan, was sie konnte, und ich wollte sie auf keinen Fall verdammen, so wie Violette es tut, sondern im Gegenteil zeigen, dass Violette nur den Teil von ihr wahrnimmt, mit dem sie noch eine Rechnung offen hat. Dasselbe gilt für die undurchsichtige Gestalt des Maurice Sachs, der Violette verlässt, obwohl er sie zum Schreiben gedrängt hat. Er hat seinen Anteil an der inneren Beschaffenheit der Schriftstellerin, die aus ihr werden wird. Nichts ist nur schwarz oder weiss. Es gibt auch Graustufen. Ich komme immer wieder darauf zurück, jeder Figur alle Möglichkeiten einzuräumen, einen stimmigen Platz. Nur so findet man seinen eigenen.

Bei Kriegsende lernt Violette Leduc Simone de Beauvoir kennen, eine symbolhafte Mutter, die als Mentorin und Mäzenin auftritt.
Zu ihr hatte Violette die stärkste Bindung ihres Lebens, auch wenn sie mit anderen stürmische und komplexe Liebesgeschichten erlebte. Das zweite Kapitel des Films erzählt, wie sich die beiden in Paris kennenlernen. Bei einem Freund von Maurice, den sie mit Fleisch beliefert, entdeckt sie Simone de Beauvoirs Roman «L‘Invitée». Der Umfang des Buches beeindruckt sie. Sie sagt: «Wie kann man als Frau ein so dickes Buch schreiben.» Sie liest es und ist gepackt. Sie denkt an nichts anderes mehr, als Simone de Beauvoir zu treffen, um dieser ihr erstes Manuskript, «L’Asphyxie», zu überreichen. Violette findet sie im «Café du Flore», wo Simone jeden Morgen schreibt, und beobachtet sie. Sie folgt ihr, stellt sie schliesslich und gibt ihr das Buch. Es ist für beide der Anfang einer lebenslangen Beziehung.

Wie interpretieren Sie im Film Violette Leducs Beziehung zu Simone de Beauvoir? Beauvoir scheint Violettes leidenschaftliches Gebaren zu bewundern; zugleich geht es ihr auf die Nerven. Sie ist die einzige Freundin, die sie ihr Leben lang begleitet; sie korrigiert ihre Texte, führt und betreut sie. Nach Violettes Tod erbt sie sogar die Rechte an ihrem literarischen Werk.
Simone de Beauvoir ist fasziniert davon, dass Violette sich weigert, sich als Intellektuelle zu begreifen. Sie sagte: Ich schreibe mit meinen Sinnen. Für sie ist es eine zwiespältige, gestörte Beziehung. Violette ist in Simone verliebt, die ihre Liebe nicht erwidert, sieht aber in ihr die inspirierte Schriftstellerin, die sie selbst nicht ist. Sie wird sie auf Distanz halten, ohne sie je ganz fallen zu lassen. Violette war einfach schrecklich. Wenn man ihr die Tür vor der Nase zuschlug, stieg sie durchs Fenster. Emmanuelle Devos, die sie im Film verkörpert, hat einen sehr witzigen und stimmigen Begriff erfunden, um sie zu beschreiben. Sie nannte sie eine «Attachiante», eine anhängliche Nervensäge. Violette plagte sich und litt fürchterlich, zugleich war sie eine Plage für die anderen. Sie fand sich hässlich, und angesichts von Simone de Beauvoir wurde diese Hässlichkeit zur Obsession. Aber Simone gelang es, die lauernden Fallstricke zu umgehen und Violette darin zu unterstützen, ihr Werk zu schaffen. Ich glaube, sie hat sie davor gerettet, sich selbst zu zerstören.

Sie zeigen uns eine überraschend zerbrechliche und auch einsame Simone de Beauvoir.
Es ist die weniger bekannte Simone de Beauvoir, die Einzelgängerin aus der Zeit, in der Sartre bereits fremd ging. Sie blühte erst viel später auf, als sie Nelson Algren begegnete. Zu dieser zerbrechlichen Simone inspirierte mich auch eines ihrer Bücher, das ich den anderen vorziehe: «Une mort très douce». Es ist ein schonungsloses und zugleich sanftes und hellsichtiges Buch, bei dem man die ganze Emotionalität, zu der sie fähig war, spürt, ihre ganze Menschlichkeit. Ich wollte diese innige Simone zum Leben erwecken, die man kaum kennt, die Frau, die sich plötzlich Violette offenbart und sich bei der Person ausweint, die sich ihr Leben lang an ihrer Schulter ausgeweint hat.

Violettes Schriften verblüffen durch ihren sinnlichen Stil, durch eine sexualisierte Sprache; aus der Feder einer Frau war das in den 50er-Jahren revolutionär. Es hiess, sie schreibe wie ein Mann.
Ja. Sie hat eine sehr organische Schreibweise. Das ist sehr selten. Sie musste viel einstecken, weil sie den Mut aufbrachte, auszusprechen, was man damals nicht zu sagen wagte. In ihren eigenen Worten. Sie war die Erste, die von ihrer Abtreibung erzählte. Ihr Buch «Ravages» wurde zensiert. Es wurde nie in der vollständigen Fassung wieder aufgelegt. Es ist absurd. Nach dieser Zensur fand sich Violette in einer Anstalt wieder. Sie entging nur knapp dem Wahnsinn.

Violettes Romane waren fiktive Umsetzungen aller ihrer verschiedenen Begegnungen. Wie stellt man ein Leben filmisch dar, das bereits mehrere Male und in verschiedenen Versionen schriftlich erzählt worden ist?
Ich habe die Dinge übertragen, adaptiert. Der Film ist eine Beschwörung, eine Interpretation. Er ist kein simples «Biopic». In dem Film steckt viel von mir selbst, meine Entscheidungen haben also viel mit mir zu tun. Ausserdem schreibe ich auch, habe lange gemalt. Für mich ist der Film eine Kunstform, die alle anderen Künste in sich vereint. Das ist es, was mir daran gefällt. Violette war eine Dichterin. Sie war die erste Frau, die Autofiktion geschrieben hat, doch mit welcher Sprache. Sie hat so vielen Frauen die Türen geöffnet. Das darf man nicht vergessen. Und dafür ehrt sie der Film.

Ihre leidenschaftliche Liebe hat ihr Werk wie ein Schrei beflügelt, aber sie sagte auch: «Ich bin eine Wüste, die mit sich selber spricht.»
Leidenschaft, ja. Aber vor allem Frustration. Man konnte sich Violette Leduc auf verschiedene Weisen annähern. Man konnte den skandalösen Aspekt wählen, denn sie hatte etwas Skandalöses an sich, war vorlaut, hatte einen wunderbaren Humor, eine starke Persönlichkeit, die gerne provozierte und sich in zweifelhafte Abenteuer stürzte, aber wenn man ihr Gesamtwerk liest, merkt man, dass das alles nur vorgeschützt war. Sie suchte nach etwas Anderem. Sie verwandelte ihre unglücklichen und unmöglichen Lieben in Bücher. Und sie war immer einsam.

Man spürt in Ihrem Willen, verkannte Aussenseiterinnen zu porträtieren, eine fast schon kämpferische Seite.
Vergessen werden. Soziale Ungerechtigkeit. Diese Dinge beschäftigen mich tatsächlich. Violette Leduc ist keine zweitrangige Autorin. Sie ist eine extrem begabte Künstlerin. Sie stammt aus bescheidenen Verhältnissen und kämpft und ringt mit einer Welt, von der sie verurteilt wird, weil sie nicht in sie hineingeboren wurde. So etwas ist immer aktuell. Durch das Schreiben verändert sie dieses Verhältnis. Sie findet ihren Platz. Wie Séraphine ist sie eine Pionierin.

Ist Ihr Film, so wie Violettes Romane, eine Art «Fortsetzung eines Schicksals», wie es Simone de Beauvoir einmal ausgedrückt hat?
Wie die schlechten Karten auswechseln, wie etwas aus seinem Unglück machen? Der Film beginnt 1942 in einer rauen und rohen Winterlandschaft, in den düsteren Farben einer trüben Morgendämmerung. Er endet mit einem Sonnenuntergang im Süden, mit einer Violette, die nach der Veröffentlichung ihres Romans «La Bâtarde» im Jahre 1964, zu dem Simone de Beauvoir das Vorwort lieferte, ihren Ruhm geniesst. Er ist eine Reise ins Licht.

Interview mit Laureline Amanieux

Regie: Martin Provost
Produktionsjahr: 2013
Länge: 139 min
Verleih: www.xenixfilm.ch