When I Saw You

Im Spielfilm «When I Saw You» schildert Annemarie Jacir das Leben der Palästinenser nach dem Sechstagekrieg, mit welchem Israel erneut Land der in der Westbank lebenden Palästinenser genommen hat. Persönlich, wunderschön und tieftraurig.

When_I_Saw_09.jpg

Tarek auf dem Weg zum Vater und zum Vaterland, das es nicht mehr gibt.

Das stille Leiden der Palästinenser

1967 ist der elfjährige Tarek mit seiner Mutter Ghaydaa im Flüchtlingscamp Harir gestrandet. Palästina, ebenso sein Vater und ihr Mann sind zwar nicht weit weg, aber dennoch unerreichbar. Zwischen Zelten und improvisierten Behausungen haben sich die Erwachsenen im Wartezustand eingerichtet. Der Junge hasst die Enge, den blöden Lehrer, das schleimige Essen und die Geduld der anderen. Als eine ältere Frau beiläufig erzählt, sie sei schon über zwanzig Jahre, also seit der Nakba 1948, im Camp, reift sein Entschluss auszubrechen. Auf eigene Faust will er nach Palästina und zu seinem Vater.

Tarek haut ab und kommt in ein Lager der Fedajin, der palästinensischen Freiheitskämpfer. Er ist nur halb so gross wie die coolen Männer mit Bärten und langen Haaren, Waffen und PLO-Tüchern, die rebellische Musik hören und sich zum Kampf gegen Israel wappnen. Als Ghaydaa ihren Sohn endlich hier im Camp findet, zwingt sie zuerst dessen Dickköpfigkeit und schliesslich ihr eigenes Einsehen, ebenfalls hier zu bleiben. Doch das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist gespannt. Sie hat sich angepasst an diese Form des Überlebens; er will unbedingt zu seinem Vater und nach Palästina.

images.jpg

Ghaydaa zwischen Anpassung und Aufbruch

1967: der Sechstagekrieg …

Der Spielfilm handelt im Jahr des Sechstagekrieges. Viele von uns erinnern sich wohl noch an jene weltbewegenden Ereignisse vom 5. bis 10. Juni 1967. Die Welt jubelte über den militärische Erfolg Israels («David») gegen die Araber («Goliath»). In der Zwischenzeit sind die lange verschlossenen Geheimdokumente aus den israelischen Archiven publiziert. Wir kennen sie, etwa aus «1967. Israels zweite Geburt» von Tom Segev, dem «Neuen (israelischen) Historiker». Daraus wissen wir, was damals wirklich geschehen ist und können den propagandistischen Mythos, dem wir damals gefolgt sind, korrigieren. Es war kein Verteidigungs-, sondern ein Präventivkrieg, bei welchem die Wüste Negev, der Golan und Ostjerusalem, das von der UNO 1948 einen Sonderstatus erhalten hatte, annektiert wurden. Im Nachgang dazu spielt der Film «When I Saw You».

mutter-und-sohn.jpg

Spannung zwischen Tarek und seiner Mutter

… und die Folgen bis heute

Die Regisseurin Annemarie Jacir versuchte mit ihrem ersten halb dokumentarischen, halb fiktionalen autobiographischen Film «Salt of this Sea» (2008), von Amerika aus ins Land ihrer Väter zurückzukehren und erlebte, dass Palästina nicht mehr ihr Land ist. Der Spielfilm «When I Saw You» (2012) blendet zurück in eines der Flüchtlingslager, in denen noch heute mehr als 5,5 Millionen Menschen überleben. Die Menschen haben hier zwar Essen und Trinken, doch sie leiden seelisch, denn sie sind gewaltsam enteignet und vertrieben worden, sind heimatlos. Einige Alte haben noch heute den Schlüssel ihres alten Hauses aufgehängt, doch das Schloss dafür gibt es nicht mehr. In Tarek und Ghaydaa erleben wir etwas von diesem Fremd-Sein. Er lehnt sich auf; die meisten im Lager haben resigniert.

Fremd-Sein und Sehnsucht

Der Junge flieht, sucht Palästina und seinen Vater. Auf dieser Flucht kommt er in ein Lager der Fedajin, der palästinensischen Kämpfer, deren Leben ihn bald zu faszinieren beginnt. Auch er will Kämpfer werden, um so dem Vater und der Heimat näherzukommen. Die Mutter sucht den vom Flüchtlingslager Ausgerissenen und findet ihn schliesslich hier. Nach einer ersten Ablehnung spürt auch sie, dass das Leben im Militärcamp ihrem persönlichen Traum näher kommt als das Leben im Flüchtlingscamp. Doch auch diese Etappe führt die beiden nicht zum Ziel. Sie merken, dass auch hier die Sehnsucht, aus dem Fremd-Sein herauszukommen, nicht erfüllt wird. Tarek entflieht auch aus diesem Camp und sucht weiter nach seiner Heimat und seinem Vater. Immer wieder blendet die Regisseurin Bildes des kargen, weiten Landes seiner Väter ein – nicht des biblisch verbrämten «Gelobten Landes», sondern ihres Landes, wo viele von ihnen seit Jahrhunderten gelebt haben. Auf der Flucht kommt er an einen Zaun, der von einem israelischen Jeep kontrolliert wird. Tarek wartet den richtigen Moment für die weitere Flucht ab, doch da holen ihn ein Trupp aus dem Camp und seine Mutter ein. Der Schluss des Films bleibt offen: wunderschön, doch der Situation entsprechend tieftraurig.

Annemarie Jacir hat ihre Menschen genau beobachtet und das, was sie gesehen hat, von den Darstellern, vorab dem Jungen Mahmoud Asfa und seiner Mutter Ruba Blal, zum Leben erweckt: authentisch und zärtlich, berührend und aufwühlend, ohne Polemik und Aggressivität. Unterstrichen wird dies noch durch die Musik: palästinensische Widerstandssongs, Pop aus den 60er-Jahren, einem Lied von Cat Stevens, dem traditionellen «Dabke»-Tanz und einigen Oud-Klängen. – Eine geradezu metaphysische Vertiefung dieses Lebens als Fedajin bietet der grossartige Dokumentarfilm «Genet à Chatila – Une saison au paradis» von Richard Dindo aus dem Jahr 1999. Annemarie Jacir hingegen behält uns auf dem Boden der historischen und aktuellen Wirklichkeit, wofür wir ihr einen grossen Dank schulden. In «When I Saw You» schildert sie zwar eine konkrete historische Situation, doch in seiner Grundaussage ist der Film – leider – absolut aktuell.

Vielleicht wurde der Film in den Unterlagen der Berlinale 2013 am schönsten zusammengefasst, wenn es dort heisst: «When I Wa You» erzählt von den Fähigkeiten eines Kindes, Erwachsene daran zu hindern, sich mit etwas abzufinden, wenn es doch Hoffnung auf Veränderung gibt.»

Annemarie Jacir: prämiert, vernetzt und engagiert

1975 wurde Annemarie Jacir in Bethlehem geboren. Bis sechzehn lebte sie in Saudi-Arabien, zur Weiterbildung ging sie in die Vereinigten Staaten, wo sie die verschiedensten Berufe ausübte, in New York macht sie den Master für Film. Zurück in Palästina engagiert sie sich politisch, als Mitbegründerin von Philister Films und des palästinensischen Filmmakers Collective, als Kuratorin von Dreams of a Nation und Organisatorin eines landesweiten Filmfestivals. Daneben produzierte sie einen okumentarfilm über das Leben von Familien im Deheisha Flüchtlingslager bei Bethlehem. Dann wurde sie an Filmfestivals eingeladen und mehrmals ausgezeichnet und war Jurymitglied. Heute lehrt sie Film an den Universitäten von Columbia, Bethlehem und Birzet sowie in Flüchtlingslagern in Palästina, Jordanien und im Libanon. Mit ihrer Kritik im Film «Salt of this Sea» hat sie die Möglichkeit verspielt, weiter in ihrer Heimat filmen zu können, weshalb sie heute von Jordanien aus arbeitet.

7ebd4d6d0fd5bc56f110ed812b2c378754429fb0.jpg

Nachbemerkungen

Im TRIGON-MAGAZIN Nr. 61 gibt es eine bemerkenswerte Würdigung des Films von Walter Ruggle und ein informatives Gespräch mit der Regisseurin Annemarie Jacir, die weitere Dimensionen des Films aufzeigen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, dass die Stiftung, welche hinter trigon-film steht, dieses Jahr ihr 25-Jahr-Jubiläum feiert. Eine Idee, ein Projekt, ein Werk, die weltweit einzigartig sind, die zu kennen wohl für alle ein Gewinn sind.

Wer der Überzeugung ist, dass Film die siebte Kunst ist, welche die ganze Welt - nicht bloss Hollywood - spiegelt und reflektiert, erhält hier die Filme und die nötigen Informationen: auf der (neuen) Website, dem Magazin und dem wunderbaren Buch WELT IN SICHT. Alles über www.trigon-film.org.