Al-Shafaq - Wenn der Himmel sich spaltet
Vater Abdullah Kara
Die Familie Kara lebt seit vielen Jahren in Zürich und wird durch den patriarchalen, strenggläubigen Vater Abdullah dominiert. Emine, die Mutter, versucht, das Regime ihres Mannes auszugleichen und ihren Kindern Liebe und den Glauben an Allah gleichermassen zu schenken. Während ihr älterer Sohn Kadir und ihre Tochter Elif ihren Platz in der türkischen Familie wie auch der westlichen Welt gefunden haben, kämpft ihr jüngster Sohn Burak um die Anerkennung durch seinen Vater und sucht nach seiner Identität. Weder bei seinen nicht muslimischen Freunden, noch in der Moschee fühlt er sich geborgen. Dann schwört er der westlichen Welt ab und beginnt, den Koran ins Zentrum seiner Weltanschauung zu stellen. Zunächst beeindruckt von der strenggläubigen Art ihres Sohnes, merken Abdullah und Emine zu spät, dass Burak ihnen bereits entglitten und auf dem Weg in den heiligen Heiligen Krieg ist. Der Vater macht sich auf, im türkisch-syrischen Grenzgebiet seinen Sohn zu suchen. Zwischen Orient und Okzident erlebt er in der Begegnung mit dem kurdischen elternlosen Jungen Malik vielleicht eine zweite Chance.
Die fünfköpfige Familie
Wieder ein grosses, mehrstimmiges Werk
Bereits mit ihrem ersten Spielfilm «Köpek» hat die mehrfach ausgezeichnete Regisseurin Esen Işik nicht nur eine einzige Geschichte erzählt, sondern mehrere, aus verschiedenen Perspektiven und über mehrere Lebensbereiche, in einer Meta-Geschichte sozusagen. Damals über die alltägliche Gewalt im Islam, jetzt über die zwei Seiten des Islam: Inwiefern erweist er sich als Segen, inwiefern als Fluch? Ein brisantes, doch wichtiges Thema. Die umfassende Geschichte spielt in verschieden Zeiten und an verschiedenen Orten, zwischen denen der Film switcht und uns eine Universalität und Allgemeingültigkeit des Themas erlebbar macht. Differenzierte, nuancierte, aber auch widersprüchliche Aussagen sind gefragt, die Esen Işik, zusammen mit ihren Darstellerinnen und Darstellern, dem Musiker Marcel Vaid und der Cutterin Aurora Vögeli, die beide bereits beim letzten Film mitgewirkt haben, leistet. Ihren Filmen liegen stets persönliche und politische Anliegen zugrunde. In «Köpek» war es ihr Ziel, im Zuschauer eine Betroffenheit als Zeuge von Gewalttaten auszulösen und darüber eine Diskussion über Machtstrukturen, Moral und Glauben anzuregen. Hier setzt ihr neuer Spielfilm «Al-Shafaq. Wenn der Himmel sich spaltet» an.
Sohn Burak und Mutter Emine
Glauben nach dem Koran oder aus der Liebe?
Die Regisseurin kreiert auch im neuen Film ein Universum von Figuren und Handlungen, mit denen versucht wird, Antworten zu finden auf dringende Fragen wie etwa: Wie kam es dazu, dass Burak, der Sohn und der Bruder, ein normaler Junge, zu einem fanatischen und tötenden IS-Kämpfer wird? Wer hätte dies verhindern können? Wer trägt Mitschuld? Kann man diese Schuld sühnen? Dafür spielt der Film auf drei Ebenen. In der ersten übernimmt der Vater die Hauptrolle. Er empfindet es als sein persönliches Versagen, eine Sünde, dass sein Sohn sich dem IS angeschlossen hat. Als er seinen toten Sohn heimholen will, begegnet er, dies die zweite Ebene, einem Kriegswaisen und nimmt diesen anstelle seines toten Sohnes in die Schweiz mit. Was der elternlos Malik in Syrien erlebt hat, bildet die dritte Ebene.
Ein Schwenk hinüber zum ebenfalls aktuellen Film «For Sama» lohnt sich: Der IS, der Burak das Leben gekostet hat, unterstützte Assad bei der Zerstörung von Aleppo, der Stadt, in welcher der syrische Film von der Brutalität des Krieges erzählt.
Im Gegensatz dazu «geht es mir nicht darum, die grausame Realität des Krieges zu zeigen, sondern Betroffenen auf beiden Seiten des Krieges ein Gesicht zu geben», meint die Regisseurin. Hier übernimmt die Mutter Emine die tragende, zukunftsweisende Rolle: Sie versteht Glauben nicht als eine strikte Ableitung aus einer Idee, einem Buch, dem Koran. Bei ihr und für sie wächst Glauben aus der Liebe zum Menschen. – Ein Vergleich mit den andern grossen, wie der Islam, von Männern geschriebenen und über die Jahrtausende von Männern verwalteten Buch-Religionen, jene der Tora und jene der Bibel, drängt sich auf. Wäre weiterzudenken.
Der kurdische Junge Malik
Eine Auseinandersetzung zwischen Männern und Frauen?
Vielleicht können solche Fragen erst heute gestellt und im Glücksfall beantwortet werden, nach einigen Jahrzehnten des feministischen Diskurses und nach der heutigen vehementen #MeToo-Bewegung: «Wer ist sSchuld?» fragt Abdullah, der Familienvater und Taxifahrer aus Zürich, der seinen Sohn im heiligen Krieg verloren hat. «Warum lässt Allah Leid und Böses zu?» fragt Burak, der 16-jährige Teenager, bevor er sich entscheidet, in den Dschihad zu ziehen.
Bei ihren Recherchen zum Film ist Esen Işik einer Familie begegnet, die ihren 16-jährigen Sohn zu Hause eingesperrt hat, nachdem er von seinem Vater an der türkisch-syrischen Grenze abgefangen und zurückgebracht wurde. Vom verzweifelten Vater wurde sie gebeten, mit seinem Sohn zu sprechen, in der Hoffnung, dass dieser zur Vernunft käme. Zweimal war sie in der Wohnung, wo der Junge unter Arrest stand. Doch auch sie hatte keinen Erfolg. Er war absolut überzeugt davon, dass es richtig ist, sich für den heiligen Krieg zu opfern. Die Frage, wie aus Jugendlichen Mörder werden, beschäftig die Regisseurin und Mutter einer heranwachsenden Tochter fundamental.
Familie Kara beim Gebet
Ein anderes Verständnis des Glaubens?
Was sind die innerlichen Beweggründe für so einen Schritt? Wie ist es möglich, dass europäische Jugendliche Teil dieses sinnlos-grausamen Krieges werden? Wie viel Schuld ist dem bedingungslosen, auf einem Buch fussenden Glauben zuzuschreiben? In «Al-Shafaq» wird der Vater, auf der Suche nach seinem Sohn, mit seiner Schuld konfrontiert, als er dem jungen Malik begegnet. Die ungewöhnlichen Umstände dieser Begegnung öffnen ihm die Augen und lassen allmählich eine kritische Haltung gegenüber seinem bedingungslosen, rigiden Glauben zu. Im Gegensatz zu ihm lebt und vertritt die Mutter eine andere Form des Glaubens, des Islam. – Eine für viele wohl heute noch ungewohnte Form, über den Islam und über Religion generell nachzudenken.
In einem eigentlichen Frauengottesdienst wird gegen Schluss des Films die weibliche Interpretation des Glaubens und der Religion erlebbar. Und der Abspann mit einem Zitat von Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī, dem persischen persischen Sufi-Mystiker, Gelehrten und Dichter des Mittelalters, bringt es auf den Punkt, genauer auf den Doppelpunkt; denn dies alles muss, nach dem Diskurs erst noch in der Praxis umgesetzt werden: «Es kommt eine Zeit, da nichts Bedeutung hat, ausser sich der Liebe zu unterwerfen», und er schliesst mit dem Aufruf «Tu es!»