Alcarràs

Hommage auf eine Grossfamilie: Familie Solé erntet im katalanischen Dorf Alcarràs seit Generationen Pfirsiche, jetzt zum letzten Mal. Die Regisseurin Carla Simón schuf mit dem persönlichen und allgemeingültigen Film «Alcarràs» eine Hommage auf das Leben in einer Grossfamilie und eine Illustration des Sprichworts «Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen». Ab 29. September im Kino
Alcarràs

Familie Solé in glücklichen Tagen


Zum Einstieg ein Statement der Regisseurin ...


Alcarràs ist ein kleines Dorf im tiefsten Katalonien, wo meine Familie Pfirsiche anbaut. Als mein Grossvater vor einigen Jahren starb, übernahmen meine Onkel und Tanten das Land. Die Abwesenheit meines Grossvaters brachte mich dazu, die Familientradition und ihre Verbundenheit mit dem Land und den Bäumen, die sie anbauten, auf eine neue Art wertzuschätzen. Ich spürte, dass das alles eines Tages verschwinden könnte. So entstand die Idee zu «Alcarràs»: Die Geschichte einer Familie von Obstbauern, den Solés, die kurz davor stehen, ihr Land zu verlieren, weil der legale Eigentümer die Bäume durch Solarpanels ersetzen will.

Die Geschichte der Familie Solé spielt in einer Zeit, in der diese traditionelle Form der Landwirtschaft kein ausreichendes Einkommen mehr einbringt. Viele Familien sehen sich gezwungen, nach etlichen Generationen ihr Land aufzugeben. «Alcarràs» ist auch eine Hommage auf den Widerstand der letzten Familienbetriebe, die in unserer westlichen Welt jeden Tag mehr vom Verschwinden bedroht sind. Eine Geschichte über die Verbundenheit mit dem eigenen Land, über Familienbeziehungen und die Spannung zwischen den Generationen. Der Film handelt auch von der Notwendigkeit, Althergebrachtes zu überwinden und der Bedeutung des Familienzusammenhalts in Krisenzeiten.

Ich wollte einen vielstimmigen Film machen, weil ich zeigen wollte, was es bedeutet, Teil einer grossen Familie zu sein. Sich überkreuzende Dialoge, entgegengesetzte Energien, subtile aber bedeutungsvolle Gesten, Emotionen mit Dominoeffekt. Jedes Mitglied der Familie Solé versucht, seinen Platz in der Welt in einem Moment zu finden, in dem sie kurz davor sind, ihre familiäre Identität zu verlieren.

Wir haben mit grossartigen nicht-professionellen Schauspielenden aus der Gegend von Alcarràs gearbeitet, die eine wirkliche Verbindung zum Land und zum Boden haben und die den besonderen Dialekt dieser katalanischen Region sprechen. Wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht, um die Familie Solé, ihre Verbindungen und ihre Wirklichkeit zu erschaffen. Bis heute nennen sie sich untereinander bei den Namen ihren Filmrollen, im Gefühl, dass sie nun alle zwei Familien haben: ihre wirklichen und die «Alcarràs»-Familie.

Alcarras 01 (c) Lluis Tudela
Sprachlos angesichts der Tatsachen

... und Anmerkungen eines Filmbesuchers


Lustig beginnt «Alcarràs» und verweist sinnlich auf die Sinnhaftigkeit des Films. Mit dem turbulenten Spiel der Kinder, die eben noch in einem alten Deux Cheveaux gespielt haben, ist abrupt Schluss, wenn das Auto mit einem Kran weggehievt wird. Eine Vorahnung auf den Schluss, wenn die Pfirsichbäume mit einem Trax ausgerissen und zerstört werden. Im Hintergrund: katalanische Landschaften, Plantagen, ein Hof und ein Berg aus gelber Erde, der wie sich aufbäumend dasteht.

Es folgt eine Sequenz mit dem Grossvater und einer Enkelin. Er steht dafür, dass die Familie Solé das Land nicht mit einem schriftlichen Vertrag, sondern mit einem Handschlag vom Grossgrundbesitzer Pinyol erworben hat; sie ist vielleicht ein künftiges Opfer dieser Tat. Eine Andeutung, wie es im ganzen Drama viele gibt, um an den hintergründigen Konflikt zwischen traditionellem Vertrauen und legalisiertem Recht zu erinnern. Solche Verweise nach vorn und nach hinten verschnüren den Film zu einem dicken Packen Vitalität und Lebenslust.

Nach diesem kindlichen Purzelbaum in die Geschichte hinein und dem hemmenden Nachsinnen des Grossvaters über die neue Situation der Familie beginnt ein zweistündiges Furioso wilder Dialoge, stürmischer Redekaskaden, die uns akustisch und visuell mit Emotionen füllen. Wenn ich mich dem Film mit dem Bild einer Gleichung mit vielen Unbekannten nähere, ist zu präzisieren, dass diese hier nicht Fakten, sondern Tausende ausgelebter oder zurückgehaltener, intimer oder offenbarter Gefühle und Gedanken der Handelnden sind.

Im Plot mit den fünfzehn namentlich genannten Figuren spielen Alte und Junge, Frauen und Männern ihr grosses Spiel des Lebens: geplant oder spontan, kreuz und quer, laut oder leise, dass man ihnen kaum folgen kann. Eine grossartige Ensemble-Kommunikation, die zu filmen von der Kamerafrau Daniela Cajías wohl einiges abverlangt hat. In den einmal exaltierten, dann introvertierten Strudel werden wir liebenswürdig gewaltsam mit Sensibilität, Empathie und grossem cineastischem Können von Carla Simón hineingezogen.

Die Themen pendeln von der Arbeit zum Privaten und zurück, gehen von ihren Freuden oder Sorgen aus, sind von Ärger oder Glück gedrängt, betreffen die Jüngsten, die Mittelalterlichen und den Ältesten. Dies alles ist die sichtbare und hörbare Oberfläche von tief innen verborgenen Leidenschaften, von Liebe und Sehnsucht, ausgestandenen Auseinandersetzungen, sich aufbäumendem Denken und behinderndem Fühlen. Wie viel Menschsein und Menschlichkeit in einer einzigen Geschichte doch sichtbar, hörbar, erlebbar werden kann!
    
All dies spielt auf einer Art Vorderbühne (Erving Goffman), während auf der Hinterbühne die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Argumente und Meinungen brodeln und auch mal explodieren. Sie stehen da wie die Berge, die Bäume und die Erde in unserem Leben oder wie im Film «Drii Winter» von Michael Koch die Steine, das Wasser, der Schnee als die Konstanten der Natur.     

Doch was ist eigentlich «Alcarràs»? Ein Spielfilm, in dem dokumentarisch die Menschen einer bestimmten Welt nachgespielt werden? Ein Dokumentarfilm, in dem Männer und Frauen das Leben ihrer Nächsten verkörpern? Ein Gleichnis über das Verschwinden und Enden von Einrichtungen, Institutionen, ja des ganzen Lebens? Eine Parabel zum Sprichwort «Tempora mutantur, nos et mutamur in illis.» (Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen.)? Oder das in Szene gesetzte Diktum «Panta rhei.» (Alles ist Bewegung.) des Heraklit?

Oder ist «Alcarràs» einfach ein Glücksfall, bei dem eine begnadete Regisseurin auf der Leinwand das Leben von Mitmenschen in ein tief menschliches Filmspiel mit wunderbaren Szenen verwandelt? Auch ein Vergleich mit dem Dokumentarfilm «Mahatah» von Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen lohnt sich, der Ähnliches macht, nicht im Miteinander des Gesprochenen wie hier, sondern im Ineinander der Bilder und Töne in zwei Bahnhöfen.

Alcarras 04 (c) Lluis Tudela.jpg foto3zu2
Grossvater mit Enkelin

Fussnoten der Filmemacherin Carla Simón


Den klugen Interview-Antworten der Regisseurin folgend, zitiere ich hier ein paar ihrer Sätze zum Film (integral im Anhang):

«Die letzte Ernte der Familie Solé erschien mir als guter Ausgangspunkt, um von einer Welt zu erzählen, die am Verschwinden ist, von Menschen, die ihr Land aufgeben müssen, wie es so vielen passiert.»

«In diesem Film geht es auch um die Frage, was Landwirtschaft heute ist. Viele meinen, das Land sollte denen gehören, die es bearbeiten, so wie die Familie Solé es über Generationen gemacht hat.»

«Niemand sucht sich seine Familie aus, man wird in sie hineingeboren. Deshalb sind Familienbeziehungen so komplex und tief, so widersprüchlich und gleichzeitig so bedingungslos.»

«Die wichtigste Inspirationsquelle für mich ist meine Familie, das ist ein unendlich tiefer Brunnen voller Geschichten. Mein Leben war immer voller Menschen.»

«Ich wollte Schauspielende, die wissen, was Landwirtschaft bedeutet, die eine Verbindung zum Boden haben, die verstehen, was es bedeutet, ihn zu verlieren.»

«Manchmal ist man überrascht, wenn ein Film fertig ist, dass manche Dinge darin eine grössere Bedeutung haben, als man selbst gedacht hat. Genau das ist uns mit dem politischen Aspekt von "Alcarràs" passiert.»

Interview mit Carla Simón, der Regisseurin von «Alcarràs»


Regie: Carla Simón, Produktion: 2022, Länge: 120 min, Verleih: Cineworx