Burning Memories

Ein Bild, das Vergangenheit aufklärt: Alice Schmid hat ihr Leben lang über Kinder Filme gedreht und geschrieben, bis sie vor dem Bild «Pubertät» von Edvard Munch erkennt, dass sie selbst in der Jugend ein Missbrauchsopfer war. Ihr Film «Burning Memories» berichtet darüber: anspruchsvoll und sehr persönlich.
Burning Memories

Edvard Munch: Pubertät, 1895

Alice Schmid hat ihr Leben lang über Kinder Filme gedreht und geschrieben, bis sie vor dem Bild «Pubertät» von Edvard Munch erkennt, dass sie selbst in der Jugend ein Missbrauchsopfer war. Ihr Film «Burning Memories» berichtet darüber: anspruchsvoll, persönlich, poetisch.

Ihr ganzes Leben hat sich Alice Schmid mit den Themen Kinder, Gewalt und Missbrauch beschäftigt, Filme gedreht und darüber geschrieben, ohne sich bewusst zu sein, dass sie selbst in der Jugend Opfer eines Missbrauchs wurde. Was sie als Sechzehnjährige erfahren hatte, war nicht nur aus dem Bewusstsein verdrängt, sondern komplett vergessen. 50 Jahre später sieht sie zufällig in Oslo das Gemälde «Pubertät» von Edvard Munch mit einem nackten Mädchen und einem Schatten daneben, das sie schlagartig daran erinnert, was ihr damals passiert ist.

Nach dem Missbrauchserlebnis ist sie verstummt, landet in einem katholischen Mädcheninternat in Belgien, wo sie bei afrikanischen Kriegskindern ihre Sprache wiederfindet. Doch der Schock der Erinnerung sitzt tief. Intuitiv reist sie in die Wüste Südafrikas und geht den Fragen nach: Weshalb konnte mir das geschehen? Warum habe ich geschwiegen? Wie funktioniert das Verdrängen, das Vergessen? Wie kommt es, dass ich in all meinen Filmen genau den Fragen zu Missbrauch und Gewalt nachging, ohne an mein eigenes Erlebnis zu denken?

Alice 17 Jahre
Alice Schmid, 17-jährig

Persönliche und allgemein gültig


In «Burning Memories» agiert Alice Schmid zum ersten Mal vor der Kamera. Dabei wird ihr in einem langen, schmerzhaften Prozess allmählich bewusst, warum sie all die Jahre Filme über Kinder und Gewalt gemacht hat, so geworden ist, wie sie ist, keine Angst vor Gewalt, jedoch vor Nähe und Liebe hat. Der Film ist die persönliche Verarbeitung eines Traumas, gleichzeitig aber auch eine allgemein gültige Annäherung an die gesellschaftsrelevanten Themen Selbstwertgefühl, Liebe und körperliche Nähe, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Verdrängung, Scham, Angst, die Rolle der Eltern und der Platz der Kinder, vor allem der Mädchen, damals und heute.

«Wir waren uns einig: Es geht in diesem Film nicht um eine Demaskierung des Täters und auch nicht darum, Protagonisten aus meinem Privatleben zu befragen. Hingegen war schnell klar, dass meine erlebte Geschichte Ausgangspunkt des Films werden soll, ohne dass es zu einer reinen Verfilmung meines Lebens à la Biopic kommt. Es geht darum, das Thema auf Grund dieser Vorzeichen cineastisch zur öffentlichen Debatte in Bezug zu bringen», meint die Produzentin zum Film.

Alice.Belgien
Alice und ihr Traum

Anmerkungen der Regisseurin


Ich bin im katholischen Reussbühl Luzern aufgewachsen. Als Mädchen wollte ich immer eine werden wie meine protestantische Grossmutter. Bei ihr musste ich am Sonntag nicht in die Kirche. Einmal im Jahr eine gute Predigt sei genug, sagte sie.

Ich war sportlich und durfte als einziges Mädchen vom Dorf mit 16 Jahren in ein Schwimmlager. Der Sportlehrer rühmte mich: 20 Meter unter Wasser schwimmen, das machst du gut. Ich war stolz. Er lud mich in sein Zelt ein. Ich verliess es erst am Morgen wieder.

Ich verstummte und verweigerte die Schule. Mutter schenkte mir ein Tagebuch. Mein erster Eintrag lautet: Bis heute habe ich nichts geschrieben. Ich weiss nicht, wie beginnen. Ich staune, was ich in meinen Tagebüchern alles nicht geschrieben habe.

Ein Mädchen, das nicht mehr redet, geht am besten ein Jahr ins Welschland. Das war damals das Schicksal der schwangeren Mädchen. Ich hatte Glück, ich landete in Belgien in einem Internat mit Mädchen aus dem Bürgerkrieg im Kongo. Ich hatte noch nie schwarze Kinder gesehen. Bei ihnen fand ich meine Sprache wieder.

Aus Angst, schwanger zu sein, machte ich es wie eines der Mädchen, das aus Heimweh eine Seife ass. Es schäumt den Bauch auf, sagte sie, es sei ein schmerzloser Tod. Wir haben beide überlebt, und meine Periode setzte wieder ein.

Meine Faszination zum afrikanischen Kontinent, wo ich Jahre später Filme über Kindersoldaten drehen würde, begann bei diesen schwarzen Mädchen in Belgien.

Nach dem Aupair-Jahr fragte mich niemand, was war. Man schwieg und war froh, dass ich wieder redete. Die Nacht im Zelt hatte ich verdrängt und komplett vergessen.

Ich litt jedoch unter Schlafproblemen, hatte plötzliche Angstattacken, Depressionen. Immer wieder fragte man mich, ob ich in meiner Kindheit einen Missbrauch erlebt hätte. Ich erinnerte mich nicht. Ich doch nicht, war meine Antwort, ich müsste es doch wissen.

Bis ich 50 Jahre später in einem Museum das Gemälde «Pubertät» von Edvard Munch entdeckte. Da erinnerte ich mich schlagartig, was in jener Nacht geschehen war. Mir wurde klar, weshalb ich all die Jahre Filme über Kinder und Gewalt gemacht hatte.

Alice.bahngeleise
Auf dem Weg zum Vergessenen

Die lange Reise zurück und in die Tiefe


Paul Valery soll gesagt haben, dass Kunst umso objektiver ist, je subjektiver sie ist. Daran erinnerte ich mich beim Werk von Alice Schmid. Sie ist in ihrem Film persönlich, gelegentlich schmerzhaft persönlich, also subjektiv. Und dennoch scheinen durch ihre Subjektivität hindurch objektive Tatbestände auf, die im Umfeld jedes Missbrauchs gelten, nachvollziehbar auch von Menschen, die einen solchen nicht erfahren haben.

Gelungen ist der Film auch, weil er nicht zu einem psychoanalytischen Diskurs ansetzt, sondern ganz nah an der Erfahrung bleibt. Visualisiert mit Bildern ihrer langen Reise, akustisch verbunden mit Akkordeon-Klänge der Autorin, was von uns empathisches Verweilen und Stehen-Lassen verlangt, wenn nicht jedes Detail sogleich verständlich ist. Die Landschaften, viele «paysages d'âmes», sind von grosser Schönheit, erfüllt von den Erfahrungen der Autorin, einladend, eigene dazu abzurufen.

«Burning Memories» ist ein Road Movie, das keine äussere, sondern eine innere, eine verdrängte und vergessene, schliesslich erkannte und verarbeitete Welt wiedergibt. Beschrieben in immer neuen Ansätzen, häufigen Zeit- und Ortswechseln, folgt der Film nicht der Logik, sondern Assoziationen, letztlich der Poesie, die ursprünglich ja Erschaffung bedeutet: Alice Schmid erschafft hier ein umfassendes Bild einer menschlichen Tragödie, die sich schliesslich zur Hoffnung wandelt.

Bio-Filmografie von Alice Schmid


Geboren 1951 in Luzern. Lehrerseminar Luzern. Studium Italienisch an der Universität Perugia und Spanisch in Madrid, ein Semester Film in Bern: Die Sprache des lateinamerikanischen Kinos. Drehbuchschreiben an der Filmakademie New York. 1996 Gründung der Filmproduktion Ciné A. S. GmbH. Filmografie: 1996 – 2010 Fernsehfilme über schwierige Kindheiten rund um die Welt, Kinofilme «Die Kinder vom Napf», «Das Mädchen vom Änziloch» 2016, «Burning Memories» 2020. Buch «Dreizehn ist meine Zahl» 2011.
 

Regie: Alice Schmid, Produktion: 2021, Länge: 80 min., Verleih: Outside-the-Box

Gerne verweise ich Sie auf eine kluge und persönliche Besprechung dieses Films von Marlène Schnieper: 1000 Kilometer gehen, um sich zu erinnern.

Neu auch im E-Cinema zu Hause zu sehen: https://www.the25hour.ch/cinema/52/84