Eldorado

Weiterhin Thema Nummer 1: «Eldorado» von Markus Imhoof ist nicht der erste, leider auch nicht der letzte Film über die aktuelle Völkerwanderung. Ein wichtiges und informatives Dokument, das schmerzhafte Fragen stellt. - Kinostart 8. März
Eldorado

Markus Imhoof auf der San Giusto der Marina Militare Italiana

Menschen auf der Flucht sind ein grosses Thema der Berlinale 2018. Fünf Filmen schafften es dorthin mit Geschichten von Hunger, Durst, Elend, Zumutung und Unmenschlichkeit. Darunter «Eldorado», der neue Film von Markus Imhoof. Als Traumland, goldenes Land, Wunschland, Paradies umschreibt der Duden das Wort. Nach «Das Boot ist voll» und «More than Honey» erzählt der Schweizer Filmemacher erneut eine persönliche Geschichte um ein globales Phänomen.

Seine Verantwortung für die Welt fusst in seiner Kindheit, seiner Verbundenheit mit einem italienischen Flüchtlingskind, das er nie vergessen hat. 70 Jahre später sind wieder fremde Menschen auf der Flucht. Nun besteigt Imhoof ein Schiff der italienischen Küstenwache, der Operation Mare Nostrum, die mehr als 100'000 Menschen aus dem Mittelmeer gezogen hat, mit den Augen des Kindes, das er einmal war. Die persönliche Motivation war für ihn stets die Basis für seine Arbeit. In seinen drei wichtigsten Filmen geht es stets um das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen.

«Fuocoammare» von Gianfranco Rosi und «Human Flow» von Ai Weiwei waren die letzten international bekannten Filme zum Thema.

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Das Flüchtlingskind Giovanna (2036 bis 2056)

Markus Imhoof über den Ursprung seines Films «Eldorado»

Das Ausland spielte eine grosse Rolle in unserer Familie: Mein Vater hatte seine Dissertation über Auswanderer aus Europa geschrieben, meine Mutter ist in Indien geboren, eine Tante kam aus Odessa, die andere lebte in Ägypten, ein Onkel in Kolumbien, der andere in den USA. Über meinem Bett hing während meiner ganzen Jugendzeit eine Karte von Afrika. 1945 kam Giovanna aus Italien zu uns in die kriegsverschonte Schweiz. Ich verliebte mich in das fremde Ich. Das hat mein Leben nachhaltig geprägt. In dieser Zeit galt in der Schweiz die Formulierung: «Flüchtlinge nur aus Gründen der Rasse gelten nicht als Flüchtlinge», weil es davon am meisten gab. 24’000 Gerettete schickte man wieder zurück, weil wir sonst wegen der Last dieser zusätzlichen Passagiere alle zusammen untergegangen wären. Darüber habe ich 1980 den Spielfilm «Das Boot ist voll» gedreht, die Geschichte einer zufällig zusammengewürfelten Gruppe von Flüchtlingen, die in den Tod zurückgeschickt wurden. Als Folge des Zweiten Weltkriegs wird heute Rassendiskriminierung als erster Punkt in der Genfer Konvention als Asylgrund anerkannt. Heute gilt der Grundsatz: «Flüchtlinge nur aus sozialer Not gelten nicht als Flüchtlinge», weil es davon am meisten gibt.

Das Boot ist wieder voll. Ich hatte vor 35 Jahren nicht damit gerechnet, dass der Titel meines Films noch einmal so konkret und drängend wird, dass man darüber nochmals einen Film drehen muss. Nach meinem letzten Dokumentarfilm «More than Honey» von 2012 begann ich an zwei neuen Filmprojekten zu arbeiten: einem über Migration und einem über Geld. Während meiner Recherchen merkte ich bald, wie eng beide Themen miteinander verbunden sind und das Thema Migration nicht ohne das Thema Geld zu erzählen ist. Jeder von uns trägt ein Stück Kongo in seiner Hosentasche: seltene Elemente im Handy, 80% von Coltan wird in rückständigen Minen im Kongo gegraben, aber die Gewinne der Rohstoffhändler fliessen in die Schweiz. Auch mit den Europäischen Handelsabkommen mit Afrika für den zollfreien Import unserer Agrarprodukte werden die Spielregeln verzerrt: Afrikanische Bauern können gegen unseren subventionierten Erfolg nicht mithalten.

Die Globalisierung hat das Proletariat exportiert und kehrt sich um in wirtschaftliche Kolonialisierung: Geld, Waren und Reiche reisen global, aber Arme müssen bleiben, wo sie sind. Die über die Welt verteilten wirtschaftlichen Hoch- und Tiefdruckgebiete sind heute Voraussetzung für die möglichst billige Produktion der Warenströme. Nur ein Gefälle kann unser Wasserrad antreiben. Die Asylsuchenden sind eine Folge dieser Dynamik. Unser Glück lockt sie an. Sie stören bei der Steigerung von Wohlstand und Wirtschaftswachstum. Darum das Einreiseverbot nach Europa. Die Abwehr überlässt man den Naturkräften des Meeres. Seit dem Jahr 2000 sind 30’000 Menschen auf der Flucht ertrunken: eine Kleinstadt aus Leichen, Menschenleben als Kollateralschaden unseres Wohlstands und unseres Strebens nach Glück. Und die Krise ist nicht vorbei, sie fängt erst an, bald kommen auch noch die Klima-Flüchtlinge.

Die Erinnerung an Giovanna schenkt mir die Radikalität des Kinderblicks, ein fruchtbarer Kontrast zur internationalen Maschinerie, mit der die Fremden verwaltet werden. Noch nie war es übrigens so schwierig, Drehbewilligungen zu bekommen. Es muss also was dran sein am Thema, wenn man dessen Bearbeitung so eifrig versucht, zu verstecken. Unsere Herausforderung war, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Grundsätzliches entlarvt sich oft an einem Detail, an einem Blick, einem Lachen, die Summe des scheinbar Unwesentlichen macht das Wesentliche sichtbar. Im Kern geht es um den Konflikt zwischen Ich und Uns, um den Kontrast oder das Zusammenspiel der vielen Einzelnen zum Ganzen. Es geht um eine Hoffnung auf ein Gleichgewicht, auf ein Zusammenleben zwischen Nord und Süd als Organismus, der sich nicht mehr permanent ausnutzt und selbst zerstört. Das kann zu Krieg führen oder der Anfang einer Liebesgeschichte sein.

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Neu heisst das Flüchtlingskind jetzt Kitty

Zum Weiterdenken

Durchschaubar steigt «Eldorado» in zwei Geschichten ein: die persönliche Begegnung mit dem Flüchtlingskind Giovanna, das die Familie Imhoof und der siebenjährige Markus bei sich aufgenommen haben und die persönliche Auseinandersetzung des 76-Jährigen, der berichtet, wie die italienische Küstenwache die Flüchtlinge aus Afrika aus dem Meer retten. Je weiter weg von Afrika und vom Zweiten Weltkrieg der Film sich bewegt, umso verwirrender und widersprüchlicher öffnet der Film sich als Tohuwabohu der italienischen, europäischen und schweizerischen Reglemente, Gesetze und Normen – taucht uns ein in ein Inferno dantesker Dimension, shakespearescher Intensität, kafkaesker Absurdität, das uns zu erwürgen droht.

Diesem Schmerz zu entkommen, indem man nach einem Zweck oder Sinn dahinter sucht, bringt einen unausweichlich auf die Religion oder das, was man als solche bezeichnet. Und es stellen sich Frage wie: Ist die Völkerwanderung des 21. Jahrhundert nicht Teil eines Weltkrieges? Sind Kriege im Grunde nicht meistens Religionskriege, ob von Juden, Christen oder Muslimen geführt? Gründet das, was als die Werte des Abendlandes bezeichnet werden, nicht exakt in der Schnittfläche zwischen Religion und Kapitalismus? Auf den Punkt gebracht hat dies Max Weber in seiner Analyse der Entwicklung vom Protestantismus zum Kapitalismus. Aktuell kaum zu übersehen in der Expansion der Evangelikalen, in den USA einem Viertel der Bevölkerung, die im Neokolonialismus ihre Heilslehre zelebriert? Oder in der wild gewordenen Expansion und gleichzeitig apokalyptischen Zerstörungswut des Islamismus? Täglich neu demonstriert in den Bildern und Taten des Psychopathen und Kriminellen im Weissen Haus? In seinem soeben erschienenen Buch «Zu spät. Eine Provokation für die Kirche. Hoffnung für alle» schreibt Martin Werlen, der ehemalige Abt von Einsiedeln, dass es für die katholische Kirche fünf nach Zwölf sei. Vielleicht können wir diesen Hinweis als Hoffnungsschimmer verstehen.

Wie in seinen früheren Filmen zeigt Markus Imhoof Zusammenhänge auf, verweist auf komplizierte Vernetzungen, erklärt schwer durchschaubare Interdependenzen. Dies zu verfolgen, fordert heraus, ist aber notwendig, erzeugt Schmerzen, kann aber auch kathartisch wirken. Das Schlusswort gibt der Filmemacher diesmal einem der bedeutendsten Persönlichkeiten der Computerindustrie und einem der reichsten Männer des letzten Jahrzehnts, Steve Jobs. Diese meinte auf dem Totenbett: «Wenn ich in der Dunkelheit die grünen Lämpchen der Lebenserhaltung beobachte, fühle ich im mechanischen Brummen dieser Maschinen den Atem des Todes auf mich zukommen. Jetzt weiss ich, dass wir uns komplett andere Fragen stellen müssen die mit Reichtum nichts zu tun haben. Zwischenmenschliche Beziehungen, auch die Träume unserer Kindheit. Was ich jetzt noch mitnehmen kann, sind Erinnerungen, die auf Liebe basieren. Das ist der wahre Reichtum.»

Regie: Markus Imhoof, Produktion: 2017, Länge: 90 min, Verleih: Frenetic