En Guerre

Ein Globalisierungskrieg: Stéphane Brizés Film «En Guerre» zeigt am Beispiel eines Streiks wegen einer drohenden Fabrikschliessung das alltägliche Drama des Kapitalismuskrieges: provokativ, berührend und mit Vincent Lindon in der Hauptrolle. – Ab 2. Mai im Kino
En Guerre

Laurent Amédéo kämpft an vorderster Front

Im südfranzösischen Agen droht dem Werk der Perrin-Industrie, dem einzigen grösseren Arbeitgeber der Region, die Schliessung. Obwohl die Arbeiter schon Zugeständnisse bei Lohn und Arbeitszeiten gemacht haben und die Bilanz Rekordgewinne ausweist. Die 1'100 Angestellten beschliessen, angeführt von ihrer Gewerkschaft und deren Wortführer Laurent Amédéo, gegen den Entscheid zu kämpfen, und sind dabei zu allem bereit.

Fokussierung der Unternehmensstrategie, Konsolidierung der Organisation, Positionierung im Marktumfeld und ähnliche Floskeln der Arbeitgeber kann man schon nicht mehr hören, wenn wieder mal irgendwo eine Firma die Arbeiter auf die Strasse stellt. Auf der anderen Seite kennt man auch die wirtschaftliche Realität und weiss, dass nicht nur böse Profitgeier hinter solchen Entscheiden stecken. Der Film des französischen Regisseurs Stéphane Brizé, 1966 in Rennes geboren, nimmt diese Situation als Ausgang und exerziert während zwei Stunden, wie ein Krieg zwischen dem Personal und dem Management sich entwickeln und eskalieren kann. Er vermeidet plakative Schwarzmalerei, sondern demonstriert politische Dialektik.

EN GUERRE StéphneBrizé
Der Regisseur Stéphane Brizé

Vorbemerkung des Regisseurs

«Warum haben Sie diesen Film gemacht? Um zu verstehen, was sich hinter einer häufigen Art von Berichterstattung verbirgt, die sich mit Phänomenen vereinzelter Gewalt bei Arbeitsunruhen befasst. Und anstatt «hinter», wäre es besser, «vor» zu sagen. Was passiert vor diesen plötzlichen Ausbrüchen von Gewalt? Was führt dazu? Es handelt sich dabei um die Wut, die sich durch ein Gefühl von Demütigung und Verzweiflung, genährt über Wochen harten Kampfes, ausbreitet und das gewaltige Ungleichgewicht zwischen den beteiligten Parteien zum Ausdruck bringt.» (Das ausführliche Interview ist am Schluss als PDF angehängt.)

Ein Zweifrontenkrieg

Jobs sind in Gefahr, als das deutsche Mutterhaus des Autozulieferers bekannt gibt, die Produktionsstätte in Agen schliessen zu wollen: Für die Kleinstadt und die Region eine Katastrophe, denn diese Firma ist der einzige grosse Arbeitgeber in der näheren Umgebung. Andere Arbeitsplätze gibt es kaum, die 34'000-Seelen-Stadt würde langsam aussterben. Die Mitarbeiter beginnen einen Streik mit den Forderungen: Wir wollen uns mit dem CEO des deutschen Mutterhauses an den Verhandlungstisch setzen, um die Stellen zu retten. Dabei beissen sie jedoch auf Granit. Doch mit medienwirksamen Auftritten verschaffen sie sich Aufmerksamkeit, werden jedoch im Lauf der Aktionen zunehmend aggressiver. Neben den Leuten von der Teppichetage lauert zusätzlich ein Feind in den eigenen Reihen. Denn nicht alle Streikenden sind mit Laurents kompromisslosen Forderungen einverstanden, einige würden gerne auf die immer grosszügeren Entschädigungsangebote des Konzerns eintreten. Während die Situation zu eskalieren droht, stehen die Streikenden vor einer Zerreissprobe.

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An vorderster Front kämpfend

Zwischenbemerkung des Regisseurs

«Erzählt der Film von einer Ausnahmesituation? Nein, überhaupt nicht. Wäre das der Fall, dann würden wir der Realität Tatsachen zuschreiben, die es gar nicht gibt. Diese Situation ist so alltäglich, dass man jeden Tag in den Medien von ähnlichen Ereignissen hört, ohne sich jedoch wirklich dabei über die Probleme klar zu werden, die mit den eigentlichen Arbeitsverhältnissen und -mechanismen verknüpft sind. Das Beispiel von Perrin-Industrie, welches im Film gezeigt wird, ist das von Goodyear, Continental, Alliance, Ecopla, Whirlpool, Seb, Seita und vielen weiteren. In jedem Fall hat die Expertenanalyse ergeben, dass es weder wirtschaftliche Schwierigkeiten gibt, noch dass die Wettbewerbsfähigkeit gefährdet ist. (Das ausführliche Interview ist am Schluss als PDF angehängt.)

Innenansichten eines Wirtschaftskrieges

Trotz einer vor zwei Jahren unterzeichneten Vereinbarung, die den Schutz der Arbeitsplätze garantieren soll, entscheidet die Zentrale in Deutschland und davon abhängig die französische Niederlassung: Agen muss schliessen. Dank ihrer Hartnäckigkeit gelingt es den Streikenden zwar immer wieder, kleine Teilsiege zu erringen, trotz enttäuschender Signale aus der Justiz und einem erfolglosen Engagement der Politik. Doch eine einzelne siegreiche Schlacht bedeutet noch keinen gewonnenen Krieg. Zumal sich auch die Arbeiterschaft keinesfalls einig ist. So geraten die Arbeiter, aber auch Laurent, immer mehr unter Druck, während sich die Manager ihrer Verantwortung entziehen, indem sie auf die abstrakten Gesetze des Marktes verweisen, was der Titel des letzten Brizé-Films, «Das Gesetz des Marktes», bereits umschrieben hat.

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Demonstration fürs Fernsehen

Vincent Lindon gibt den Verlierern ein Gesicht

Wüsste man es nicht besser und wäre Vincent Lindon nicht ein so bekannter Darsteller, könnte man ihn tatsächlich für einen echten Gewerkschafter halten, so glaubhaft ist er in der Rolle des einfachen und aufrechten Mannes, der für das Wohl der Arbeiter kämpft, das Herz auf dem rechten Fleck hat, sich über die offensichtliche Ungerechtigkeit aufregt und dabei auch mal die Fassung verliert. Man mag diesen Mann instinktiv, auch wenn er nicht frei ist von Fehlern. Man bewundert seine Unnachgiebigkeit und Ausdauer. Man leidet förmlich mit ihm, wenn sich wieder einmal das Schicksal gegen ihn und die Arbeiter verschworen hat. Glaubwürdigkeit und Authentizität schafft der Film durch das Drehbuch und die Regie, das überzeugende Spiel aller Darstellerinnen und Darsteller, die Kameraarbeit von Eric Dumont, die uns mitreisst, und den sparsamen Einsatz der Musik von Bertrand Blessing, die uns das Gesehene und Gehörte verdauen lässt. Mit «La loi du marché» hat Stéphane Brizé 2015 in Cannes begeistert, sein Hauptdarsteller Vincent Lindon den Darstellerpreis gewonnen. Vier Filme haben die beiden gemeinsam realisiert, bei uns bekannt ist «Mademoiselle Chambon» von 2009, wo Lindon ein sensibles Kammerspiel zeigt.

«En Guerre» ist ein niederschmetternder Film, und dafür hätte er nicht einmal so enden müssen, wie er es tut. Er verdichtet das, was uns die Medien täglich von ähnlichen Ereignissen berichten, zu einem Drama. Im Titeltext vor dem Filmstart heisst es: «Celui qui combat peut perdre. Mais celui qui ne combat pas a déjà perdu. Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren». Dieser Bert Brecht zugeschriebene Satz umschreibt die Tragödie des Films über den Shareholder Value, die Globalisierung, den Kapitalismus, angesichts dessen wir immer wieder hoffnungslos kapitulieren.

Interview mit Stéphane Brizé PDF

Regie: Stéphane Brizé, Produktion: 2018, Länge: 115 min, Verleih: Xenixfilm