Flee

Fliehen als Existenzform: Jonas Poher Rasmussens Doku-Animationsfilm «Flee» beschreibt, informativ und intensiv, die vielfältigen Dimensionen des Fliehens, erhebt sich zu einem Hymnus auf das Leben und die Freiheit und schafft formal die Distanz für eine Reflexion darüber. Ab 21. Juli im Kino
Flee

Amin erzählt sein Leben
 
Amin, ein 36-jähriger Akademiker, lebt in Stockholm. Bislang hat er sich geweigert, mit irgendjemandem über seine Herkunft zu sprechen. Doch jetzt steht er an einem Wendepunkt: Er und sein Lebenspartner wollen zusammenziehen und heiraten. Amin spürt, dass er sich nun seiner Vergangenheit und seinen Erinnerungen stellen muss: Er war noch ein Junge, als er mit seiner Mutter und seinem Bruder aus Afghanistan geflüchtet war. Schliesslich ist er als 16-Jähriger allein in Dänemark gelandet: auf der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit, mit der Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft. Auf die Frage nach der Bedeutung des Begriffs «Heimat» meint er in der Einleitung des Films: «Es ist der Ort, wo ich mich sicher fühle, wo ich bleiben kann, von wo ich nie mehr weggehen muss, es ist nichts Vorübergehendes.»

«Flee» ist die wahre Geschichte einer Flucht: Der dänische Regisseur Jonas Poher Rasmussen, der Amin seit seiner Ankunft in Dänemark kennt, erzählt sie als Doku-Animationsfilm, in den er ab und zu Archivaufnahmen einstreut. So entstand ein breites, ein umfassendes Fresko aus Bildern und Erinnerungen, eine wahre und poetische Chronik einer Suche nach dem Glück, ein Hymnus an das Leben.

Formal, nicht inhaltlich, bieten sich zwei Animationsfilme zum Vergleich an: «Chris the Swiss», der Dokumentar-Animationsfilm von Anja Kofmel über einen Schweizer im Jugoslawienkrieg, und «Waltz with Bashir» von Ari Folman, eine Parabel über den ersten Libanonkrieg. – Vom grossartigen Team von «Flee» seien hier lediglich die Wichtigsten erwähnt: Drehbuch Amin Nawabi und Jonas Poher Rasmussen, Animationsregie Kenneth Ladekjær und Musik Uno Helmersson.

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Jonas (l) im Gespräch mit Amir

Der Regisseur Jonas Poher Rasmussen

Der 1981 geborene, dänisch-französische Regisseur und Drehbuchautor schuf seit Beginn der 2000er-Jahre acht Kurzfilme und Dokumentationen, die sowohl in seiner Heimat als auch an Filmfestivals prämiert wurden. Sein bisher grösster Erfolg ist «Flee», der weltweit über 80 Preise gewonnen hat.

Der Regisseur entstammt einer jüdischen Familie. Anfang des 20. Jahrhunderts flohen seine Vorfahren aufgrund antisemitischer Ausschreitungen aus Russland nach Dänemark. Seine Grossmutter wurde in Kopenhagen geboren, ihre Familie erhielt jedoch kein Asyl und musste nach Deutschland fliehen. In der Zeit des Nationalsozialismus lebte sie als Schülerin in Berlin, ehe die Familie nach England flüchtete. Jonas' Vater ist der Musiker Tom Nagel Rasmussen, seine Mutter die bildende Künstlerin Catherine Poher. Jonas Poher Rasmussen lebt in Kopenhagen.

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Amin erinnert sich

Aus den Erklärungen des Autors

In einem liberalen Elternhaus aufgewachsen, wurde mir beigebracht, respektvoll, aufgeschlossen und neugierig auf die Menschen zuzugehen, ungeachtet ihrer Vergangenheit und politischen Überzeugung. Menschen zu treffen, wer und was sie im Leben auch immer sind, ist einer meiner Kernansätze bei der Entwicklung meiner Dokumentarfilme. Mein Ziel ist es, ehrliche und echte Verbindungen in einer vertrauensvollen Umgebung herzustellen, da dies mir auch hilft, zu ihren intimsten Geschichten zu gelangen. Ich versuche, ihre Nuancen und Komplexitäten zu verstehen, einschliesslich der verletzlichen oder hässlichen Seiten. Während ich ihre Geschichten erzähle, versuche ich stets, neue Wege und Ansätze zu erkunden. Meine Absicht ist es, eine überzeugende, einladende Erzählung zu schaffen, um meinen Gästen eine Plattform zu geben, die sie verdienen.

Aus einer jüdischen Familie stammend, liegt mir das Thema Flucht und Vertreibung besonders am Herzen. Meine Vorfahren flohen Anfang des 20. Jahrhunderts aus Russland, um Verfolgung und Pogromen zu entgehen. Wie Amin, mein Protagonist, segelten sie über die Ostsee nach Dänemark. Hier wurde meine Grossmutter geboren, in einem Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs in meiner jetzigen Heimatstadt Kopenhagen. Ihre Familie – meine Familie – beantragte Asyl, das wurden abgelehnt, musste erneut umziehen, diesmal nach Deutschland. Als Grundschülerin in Berlin musste meine Grossmutter mit einem gelben Stern auf der Brust vor ihren Klassenkameraden stehen. Bald musste sie erneut fliehen, diesmal nach England. Es geschah vor fast einem Jahrhundert, doch die Geschichte ihrer Vertreibung hängt immer noch an meiner Familie.

Ich war 15, als Amin zum ersten Mal in meiner verschlafenen dänischen Heimatstadt auftauchte. Er kam ganz alleine aus Afghanistan und lebte auf einer Pflegestelle, gleich um die Ecke meiner Wohnung. Wir trafen uns jeden Morgen an der Bushaltestelle auf dem Weg zur High School und wurden Freunde. Das war vor 25 Jahren. In dieser ganzen Zeit hat er mir nie erzählt, wie oder warum er nach Dänemark gekommen ist. Er hat es noch niemandem erzählt. Da ich damals noch ein Teenager war, hatte ich ihn nie wirklich nach seiner Vergangenheit gefragt. Mindestens sein halbes Leben lang hat Amin es vermieden, jemandem seine Geschichte zu erzählen. Stellen Sie sich vor, wie aufgeregt ich war, als er endlich zustimmte, sich mir für meinen Film zu öffnen. Er war bereit, mir alles zu erzählen. Wie unterschiedlich waren unsere Leben – und wie ähnlich! Wir sind ungefähr gleich alt, haben beide die gleiche Musik gehört, die gleichen Filme geschaut und Sport getrieben. Er liebte es, in Kabul Volleyball zu spielen, während ich es liebte, in Dänemark Fussball zu spielen. Doch dann nahm sein Leben eine drastische Wendung. Er lebte fünf Jahre auf der Flucht, bevor er schliesslich in meiner Stadt ankam.

«Flee» zu machen gab mir neue Einblicke in die drastischen Folgen einer Flucht aus der Heimat, besonders als Kind wie Amin oder als meine Grossmutter. Ich begann die Schwierigkeiten zu verstehen, mit denen Kinder wie diese konfrontiert sind, wenn Vergangenheit und Gegenwart so voneinander getrennt sind. Ich verstand, warum sie dazu neigten, in die Zukunft zu blicken, während sie gleichzeitig einen Sicherheitsabstand zu andern Menschen einhielten. Ich verstand, wie es ist, ein tiefes Geheimnis zu haben, das man mit niemandem teilen kann, das aber in den Beziehungen im Leben immer still präsent ist. Was Amin angeht, so stellte ich fest, dass dieses Gefühl der Verdrängung auch nach all den Jahren immer noch in ihm präsent war. Ich glaube, das liegt daran, dass er nie die Gelegenheit hatte, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen und seine Geschichte zu erzählen: die Geschichte von «Flee».

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Kaspar und Amin wollen heiraten

Für Millionen ihre Form des Überlebens

Es gibt Filme über Fluchten und Flüchtlinge, die mehr Action haben und vielleicht stärker unter die Haut gehen als «Flee». Doch «Flee» zeichnet sich in einem doppelten Sinn aus als ein besonders wichtiger und bedeutender Film aus. Erstens beschreibt er, stellvertretend mit Amins Lebensgeschichte, die Geschichten von unzähligen Flüchtlingen irgendwo und irgendwann auf der Erde in ihrer ganzen Breite und Unmenschlichkeit. Und indem der Regisseur auch mit den Methoden der Psychologie das Leben von Amin ergründet, taucht der ganze Film auch in die Tiefen der menschlichen Seele ein.  

Die ganze Menschheitsgeschichte, das wissen wir, ist erfüllt von Szenen von Verfolgten und Fliehenden. Im Alten Testament exemplarisch mit dem Exodus der Juden aus Ägypten, im Neuen mit der Flucht der Heiligen Familie vor Herodes beschrieben. Näher an unserer Zeit und auf allen Kontinenten sind es dann unzählige Fluchten, am breitesten beschrieben jene der Juden vor den Nazis. Und das Flüchten geht weiter, aus religiösem oder hegemonialem Irrsinn bis in die allerneueste Zeit – welche diese Zeilen stündlich weiterführen.  

Regie: Jonas Poher Rasmussen, Produktion: 2016, Länge: 90 min, Verleih: Filmcoopi

 

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