Hedi
Hedi, zwischen Khedija und Rim
Hedi Barrak, 25-jährig, Sales Manager bei Peugeot, soll verheiratet werden. Seine Mutter hat nach tunesischem Brauch alles für ihn arrangiert und ihm die junge, hübsche Khedija als Braut ausgesucht. Doch nur wenige Tage vor der Hochzeit begegnet er auf einer Geschäftsreise der lebenslustigen und rebellischen fünf Jahre älteren Tänzerin Rim. Hals über Kopf stürzen sich die beiden in eine leidenschaftliche Liebesaffäre. Vor der sonnendurchfluteten Kulisse eines Strandhotels schmieden sie Pläne für ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben, abseits gesellschaftlicher Zwänge. Sie macht Projekte, er hat Träume. Der Tag von Hedis Hochzeit rückt unerbittlich näher. Wie wird er sich entscheiden?
Die von gut ausgebildeten, aber auf dem Arbeitsmarkt chancenlosen jungen Menschen getragene «Jasminrevolution» Tunesiens von 2010/11 bildet den Grund, auf welchem der 1976 in Tunis geborene Regisseur Mohamed Ben Attia die Liebesgeschichte seines ersten Spielfilms handeln lässt. Was auf den ersten Blick wie eine simple «Amour fou», ein traditionelles «Dreieck» erscheint, wird zur subtil erzählten, gelegentlich fremden, jedoch wunderbaren «Éducation sentimentale», wie sie vor allem für diese Region Gültigkeit hat. Zusätzlich erzählt der Film das Gleichnis der gesellschaftlichen, ideologischen und psychologischen Entwicklung Tunesiens. Diese doppelte Spannung berührt und fordert heraus.
«Hedi» erhielt an der Berlinale 2016 den Goldenen Bären und wurde als Bester Erstlingsfilm ausgezeichnet, verdientermassen, wohl vor allem der Regie, der Darsteller und der Kamera wegen.
Rim lockt Hedi aus seiner Welt heraus
Vor und nach der Jasminrevolution
«Hedi» erscheint mir wie eine interessante Fortsetzung des Films «As I Open my Eyes» von Leyla Bouzid, der am Vorabend des Arabischen Frühlings handelt. Der eine zeigt dessen Aufblühen, der andere dessen Verblühen. Die Liebesgeschichte mit Hedi zwischen der Verlobten Khedija und der Geliebten Rim, erinnert mich weiter an den Pamuk-Film «Innocence of Memories», mit Kemal zwischen der verlobten Sibel und der geliebten Füsun. Beide Geschichten beschreiben sensibel und facettenreich die Entwicklung von der verordneten zur frei gewählten Heirat.
«Weisst du, damals (am Anfang des Jasminrevolution, HS) hatte ich für drei Tage das Gefühl, dass alle Leute sich irgendwie lieb hatten», sagt Hedi zu Rim. Das Politische war privat, das Private politisch. In ehrlicher, zweifelnder Ungewissheit porträtiert der Filmemacher, im Individuellen wie im Kollektiven, eine sich verändernde Gesellschaft. Hedi und Rim erträumen gemeinsamen eine bessere Zukunft. Ob sie ihre Träume jedoch verwirklichen, sich von den Normen, die ja auch Sicherheit bieten, befreien können, lässt der Film offen. Er erweist sich als gültiger Kommentar zum Zustand Tunesiens. «So, wie ich die Geschichte anhand dieser Charaktere erzähle, wollte ich ein Porträt meines Landes zeichnen, wie es heute ist. Mein Land ist verkatert. Es ist nicht länger geknebelt, aber es liegt in den letzten Zügen einer tiefen sozialen, religiösen und ökonomischen Krise», meint der Filmemacher.
Hedi, mit offenen Fragen
Anmerkungen des Regisseurs Mohamed Ben Attia
«Hedi bedeutet "ruhig", "gelassen". Der Name hat sich als Titel des Filmes aufgedrängt. Weil das nicht nur den Hauptcharakter beschreibt, sondern auch die Situation, in der er sich zu Beginn der Geschichte befindet. Da ist er die Ruhe vor dem Sturm. Und wie viele andere Tunesier erfährt er das Stigma der Tradition, in seinem Fall durch die bevorstehende Heirat mit Khedija, einer jungen Frau, die ebenfalls vom Gewicht der Sitten und Religion erdrückt wird.
Ursprünglich wollte ich die Geschichte eines jungen Mannes erzählen, der zwischen zwei Welten hin- und hergerissen ist, die jeweils sein Leben bestimmen könnten. Zu dieser Zeit waren in Tunesien die ersten demokratischen Wahlen, und wir entdeckten zu allererst einmal uns selbst. Unter Ben Ali hatte die politische Zensur uns betäubt und liess alles um uns herum verfaulen. Wie Hedi zu Beginn des Films, versuchten wir unser Leben zu leben, ohne allzu viele Fragen zu stellen.
Zu diesem Zeitpunkt wurde die Parallele zwischen der Reise dieses jungen Mannes und dem, was in unserem Land vor sich ging, offensichtlich und zur zentralen Aussage der Geschichte, die ich um Hedis Figur entwickelte. Die Parallelen zwischen Hedi und dem, was wir zu jener Zeit in Tunesien erlebten, diktierten, quasi die Züge seiner Persönlichkeit und der Figur, die ich auf der Leinwand zeigen wollte. Durch seine Begegnung mit Rim erfährt Hedi mehr über sich selbst, seine Träume und seine Grenzen.
Hedi und Rim, vor schwierigen Entscheidungen
Anders als für Hedi gibt es für Khedija, die Frau, die er heiraten sollte, keinen Ausweg aus der Tradition. Sie wurde von Geburt an darauf programmiert, das Ziel einer Heirat und der Gründung einer Familie zu verfolgen, und sie hat sich niemals ein anderes als das ihr vorgezeichnete Leben vorgestellt. Sie ist keine unterwürfige Frau im Sinne von aktiv unterdrückt, aber sie ist eine stark beeinflusste Frau. So wie Hedi wuchs sie in einer Umgebung auf, in der man keine neuen oder unterschiedlichen Menschen traf, und sie akzeptiert ihr Los, ohne es zu hinterfragen.
Während Rim auf eine Art das Gegenteil von Khedija ist, wäre es zu vereinfachend, sie darüber zu definieren. Es gibt so viel mehr als diese beiden Formen von Frau-Sein in Tunesien, aber in gewisser Hinsicht repräsentieren sie zwei symbolische Pole. Hedi hat einfach nur das Glück, jemanden wie Rim zu treffen, und dadurch eine neue Sichtweise zu entdecken. Khedija erhält diese Chance nicht. Hedis Position in seiner eigenen Familie trägt zu dieser komplexeren Sichtweise bei.
Dass er in seiner Familie zwischen seiner Mutter Baya und seinem älteren Bruder Ahmed steckt, trägt viel dazu bei, wie er ist. Von Anfang ist der Kontrast zwischen den beiden Brüdern schnell zu erkennen, aber im Verlauf der Geschichte stellen wir fest, dass es beiden schwerfällt, die Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen zu übernehmen.
Auch wenn Ahmed auf dem Platz, den er einnimmt, als Lieblingskind, das im Ausland ein tolles Leben hat, sehr zufrieden wirkt, auch er ist zwischen den familiären Verpflichtungen und seiner persönlichen Erfüllung hin- und hergerissen. Auch wenn Hedi als jüngerer Bruder sehr kontrolliert wird, findet er mit seinen Zeichnungen einen persönlichen Freiraum. In diesen Momenten findet er zu sich selbst. Und es ist ihm egal, dass er als Träumer angesehen wird, er lässt die anderen denken, was sie wollen, und will ihr Bild von sich nicht ändern. Dank seiner Zeichnungen schafft er sich kleine Auszeiten, bis er Rim trifft, eine Sportanimatorin. Sobald sich ihre Wege kreuzen, lernt Hedi, sein Leben neu zu betrachten und nein zu sagen.»