Innocence of Memories
Orhan Pamuk beim Schreiben
In seinem Roman «Das Museum der Unschuld» erzählt der 1952 geborene türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk von einer leidenschaftlichen und unglücklichen Liebe im Istanbul der 1970er Jahre. Kemal Basmaci, ein Mann aus der Oberschicht, verfällt rettungslos der Liebe zur blutjungen, wunderschönen Füsun. Was als Affäre mit einer armen Verwandten begonnen hat, wächst zur Obsession. Die beiden lieben sich während eineinhalb Monaten in einer geheimen Absteige. Das hindert Kemal nicht, gleichzeitig die Beziehung mit seiner Verlobten Sibel zu pflegen, sie ebenfalls zu lieben und die Verlobungsfeier vorzubereiten. Dort taucht Füsun noch einmal auf, danach lässt sie sich nicht mehr blicken. Er besucht weiter das Apartment, um Gegenstände seiner Geliebten zu finden, zu liebkosen oder einfach zu «inhalieren». Seine Liebe nimmt noch groteskere Formen an, als er ein Jahr später Füsun, nun verheiratet mit dem Filmer Feridun, im Hause ihrer Eltern begegnet. Nun pilgert er mehrmals die Woche dorthin, isst da, schaut fern und bewundert aus den Augenwinkeln «seine» Füsun, ohne sie jemals wieder berühren zu dürfen. Im Rahmen seiner Besuche lässt Kemal stets etwas mitgehen, um es heimlich als «Objekt seiner Begierde» zu geniessen ...
Fiktion wird real, Realität fiktiv
Dem englischen Filmregisseur Grant Gee, 1964 in Plymouth geboren, ist in Zusammenarbeit mit Orhan Pamuk mit «Innocence of Memories» ein mehrschichtiger, den Vorlagen adäquater, meisterhafter Filmessay gelungen: ein ästhetischer Genuss.
Die erste Annäherung: das Museum
Füsuns Zigarettenstummel
Istanbul-Reiseführer laden im Viertel Çukurcuma, im modernen Stadtbezirk von Beyoğlu, in das 2008 eröffnete «Orhan Pamuk Museum der Unschuld» ein. Weltweit einmalig: ein Museum mit realen Gegenständen, die einem fiktiven Roman entstammen! «Kemal überträgt seine Liebe zu Füsun auf Dinge, welche die Zeit ihres gemeinsamen Glücks im Merhamet Apartmani symbolisieren», beschreibt es der Schriftsteller. Auf fünf Stockwerken sind Gegenstände aus dem Alltagsleben der geliebten Füsun ausgestellt: Fotografien, Filmplakate, Postkarten, Kästchen voller Knöpfe, Kleider, Schminkutensilien, Eintrittskarten, Lottoscheine, Gläser und Rakiflaschen. Schon in der Eingangshalle konfrontiert eine Wand mit 4213 Zigarettenstummeln von Füsun das Publikum. Die 83 Vitrinen entsprechen der Anzahl der Kapitel des Buches. In der Dachkammer befindet sich Kemans Zimmer, in dem er die letzten Jahre seines Lebens in Erinnerung an seine Geliebte verbracht hat, sowie Pamuks Romanmanuskripte. Hier treffen sich Illusion und Wirklichkeit, wird Vergangenes als Objekt in die Gegenwart geholt.
Die zweite Annäherung: der Roman
Istanbul by Night
Der Roman «Das Museum der Unschuld» wurde zwischen 2001 und 2008 geschriebene und 2008 herausgegeben. Ein Roman, inhaltlich und emotional reich, sprachlich exakt und traumhaft zugleich, schafft die imaginäre Welt einer Stadt zwischen Orient und Okzident und einiger Menschen darin. «Es ging mir um die Geschichte eines Mannes, der eine Frau so sehr liebt, dass er alles sammelt, was sie berührt hat, alles, was diese Liebe verkörpert», meint der Schriftsteller, obwohl er «nicht an dieser fast erotischen Obsession des Sammlers» leidet. Wir aber werden hineingezogen ins Leben dieses Paares, voll Sinnlichkeit und Leidenschaft. Ein Kuriosum des in Ich-Form erzählten Textes: Der Autor wird darin selbst gelegentlich als Akteur in die Handlung einbezogen. Den Ton der wunderbaren Geschichte des Erinnerns, in der Fiktion real und Realität fiktiv wird, schlägt Pamuk im ersten und letzten Satz des Romans an: «Es war der glücklichste Moment meines Lebens, und ich wusste es nicht einmal ... Jeder soll wissen, dass ich ein glückliches Leben geführt habe.»
Die dritte Annäherung: der Film
Unterschichtige, diskriminierte Frauen
Der englische Regisseur Grant Gee, der bisher Filme über Anarchisten, Rock-Bands, Kletterer und Autoren drehte, hat mit diesem Filmessay ein Werk geschaffen, das mit Doppelbelichtungen, Überblendungen und Bildsplittings für das Buch, das Museum und das Istanbul vor fünfzig Jahren eine adäquate Form gefunden hat. Mit einer Steadicam, einer am Körper befestigten Kamera, führt er uns durch die Strassen, Gassen, das Aussen und Innen der Häuser und schliesslich das Museum. Ergänzt wird das Visuelle mit den Kommentaren von Ayla, einer Freundin von Füsun im Roman, dem Istanbuler Fotografen Ara Güler und einem Taxifahrer. Sie ziehen uns in die vielschichtige, dialektische Filmhandlung hinein und fesseln uns mit ihren geheimnisvollen Fahrten, Texten und Klängen der fremden Innen- und Aussenwelten.
Zusammen ergibt das einen wunderbaren Film über die unsterbliche Liebesgeschichte, komplex, doch nicht kompliziert, wenn man sich mittragen lässt in die Welt der Poesie. «Innocence of Memories» zeigt uns ein anderes Istanbul, als etwa jenes, das wir aktuell in den Medien wahrnehmen, auch ein anderes als beispielsweise jenes der Schweizer Filmemacherin Esen Isik im Spielfilm «Köpek». Ein vergleichendes Weiterdenken drängt sich angesichts der gegenwärtigen politischen Aktionen in der Türkei auf! Der Film verträgt einen Vergleich, auch wenn er die politische und ökonomische Dimension ausblendet. Er bietet ein grossartiges Spiel zwischen Fiction und Non-Fiction, zwischen Erinnern und Erträumen. Zutiefst wird «Innocence of Memories» zu einem Sinnbild. Wofür? Für die Unschuld des Erinnerns? Die Unschuld des Gelebten? Die Unschuld des Geliebten?
Mögliche Deutungen des Films
Ein Schuh von Füsun
Film, und mehr noch im Buch, fasziniert die unschuldige und obsessive, leidenschaftliche und ekstatische Liebesgeschichte von Kemal und Füsun. Vergleichbar mit Henry Millers autobiografischen Bekenntnissen, jedoch erotischer, weniger sexuell. Provokativ und herausfordernd wirken zudem die parallel zur «amour fou» von Kemal und Füsun verlaufenden gutbürgerlichen Vorbereitungen auf die Verlobung von Kemal und Sibel. Unerwartete Einblicke gewähren das Buch «Das Museum der Unschuld» und der Film «Innocence of Memories» in das, wie Liebe auch sein kann, in ihren tiefsten Tiefen und höchsten Höhen, jenseits aller Normen und Gesetzen. Weshalb wohl Orhan Pamuks in seinem Land diskriminiert wird und seit 2006 unter Polizeischutz steht.
Die intensive Erotik des Werkes spielt vor dem Hintergrund einer konkreten historische Gesellschaft, in der religiöse Normen solches Leben und Lieben offiziell verbieten und in den Untergrund drängen, die daran beteiligten, meist unterschichtigen Frauen diskriminieren und gelegentlich in den Tod treiben. Die gelebte und gezeigt Form der Liebe scheint mir eingespannt zwischen der Heiterkeit von «1001 Nacht» und den Liebesvorstellungen «liberal», «europäisch» oder «modern». Verdinglicht wird dieses Leben und Lieben in einem Museum mit Objekten, Überbleibseln und Schätzen einer glücklichen und schliesslich tragischen Liebesaffäre. Sie wurde zum Museum der Unschuld, das sich als fester Bestandteil kultureller Istanbul-Reisen etabliert hat, mit Bosporus-Schifffahrt, Hagia Sophia, Blaue Moschee und dem grossen Basar
Irgendwo heisst es im Kommentar des Films, jede Stadt sei ein Museum. Und an einer anderen Stelle: Pamuk habe sich durch die Stadt geschrieben. Ja, der Film macht bewusst, dass es immer und überall Geschichten zu erzählen gibt. Auf jeder Strasse, hinter jeder Tür, auf jedem Tisch, in jedem Bett warten Geschichten, bis sie geweckt, erzählt oder geschrieben werden. Dinge des Alltags sind eingefrorene Lebensgeschichten. In sie hineinzuhorchen, laden der Film, das Buch und das Museum ein. Vielleicht bieten sie da und dort die Transzendenz, welche Religionen verlangt und geboten haben, bevor sie zu Institutionen wie Staaten oder Firmen erstarrt sind.
Regie: Grant Gee, Produktion: 2015, Länge 797 min, Verleih: trigon-film