Hit the Road

Von der Komödie zur Tragödie: Der iranische Regisseur Panah Panahi, Sohn des berühmten Jafar Panahi, lädt mit «Hit the Road» auf eine brillant gespielte und gefilmte melancholisch-humoreske, absurd-tiefsinnige Filmreise ein, die uns mehrfach Grenzen erfahren lässt. Ab 11. August im Kino
Hit the Road

Schubert, auf spezielle Art gespielt

Eine Familie fährt durch magisch-schöne persische Landschaften. Hinten im Leihwagen sitzt der Vater mit einem Bein im Gips. Vorne versucht die Mutter, ihren Jüngsten zu bändigen, der allerlei Schabernack treibt. Nur der erwachsene Sohn sitzt stumm am Steuer und blickt stoisch auf die Strasse. Dass die zunächst ziellos scheinende Reise mehr ist als ein Alltagsausflug, wird, je mehr sich die Familie den Bergen an der Grenze nähert, klar.

Doch sicher wissen wir das nicht. Denn der brillant gedreht und gespielte Film des 1984 geborenen Panah Panahi schrammt immer wieder an Antworten und Bedeutungen vorbei und lässt uns weiter im Ungewissen. «Hit the Road» (Sich auf den Weg machen) ist ein Film des Erahnens, Vermutens von tragischen Botschaften in komischer Form – höchst wahrscheinlich ein absurdes Meisterwerk.


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Der Vater mit dem älteren Sohn

Schritt um Schritt beantworten sich die Fragen

Gleich in der ersten Sequenz überrascht uns Panah Panahi mit einem filmischen Amuse-Bouche: bestehend aus erlesenen Tableaus von Amin Jafari an der Kamera, dessen Spiel mit Bewegungen und Schärfentiefen uns spontan geniessen lässt, auch wenn wir noch nichts verstehen.

Der Film handelt von einer Familie, die sich neckt, liebt und sorgt: mit dem sechsjährigen Rahman, auch mal als kleiner Scheisser tituliert, vom Jungstar Rayan Sarlak performt, der liebenswürdigen, zupackenden Mutter, mitreissend gespielt von Pantea Panahiha, dem Vater, leicht behindert und vielleicht als Künstler verkannt, verkörpert von Hassan Madjooni, dem älteren, meist stummen Sohn Farid, verhalten verkörpert von Amin Simiar, sowie dem kranker Hund Jessy im Kofferraum.

Eine auf verfremdete Art gespielte Schubert-Melodie eröffnet die Handlung, und die Familie wird von Payman Yazdanian in den verschiedensten Zuständen der Geschichte musikalisch betreut, wenn nötig auch mit Popsongs und sentimentalen Schlagern.

Spannend, im Kontrast zu den ruhigen Szenen, wird es erstmals, als dem Jüngsten sein Handy, das er in der Unterhose verborgen hat, mit Gewalt abgenommen und irgendwo in der Wüste versteckt wird. Weshalb mit solcher Dramatik, verstehen wir noch nicht.

Dass es sich nicht um einen harmlosen Sonntagsausflug, sondern um eine Flucht handelt, wird erst allmählich klar. Wer aber, weshalb und wohin fliehen soll, bleibt unbeantwortet. Gelegentlich hört man zwar etwas von Abschied, schmerzhaft, doch verdrängt, bei der Mutter.

Die Szenen mit Velorennfahrern, denen sie begegnen, sind lustig und absurd, können uns in die Tonalität der Absurdität einführen, vielleicht um die Absurditäten im persischen Gottesstaat zu verstehen, die der Kleine mit seinen Ritualen und der Ältere mit seinen heruntergeleierten Autofahrregeln parodieren.

Die Anhäufung absurder Szenen erweitert das Einmalige zum Allgemeinen, zum «Sisyphos», der bekanntlich ein glücklicher Mensch ist, weil der Kampf mit dem stets herunterrollen Stein sein Herz ausfüllen kann.

Trotz Komik schwebt über dem Film, da und dort spürbar, Tragik. Etwa dort, wo die Familie sich nachts auf einem Berg mit andern trifft und voll Ungewissheit wartet: auf «Godot»? einen Fluchthelfer? die richtige Zeit zum Fliehen?

Dass der Weg für die Weiterfahrt von einem Unbekannten erfragt, heimlich mit einem andern Unbekannten telefoniert wird, Motorradfahrer mit vermummten Gesichtern auftauchen und verschwinden, säht Unsicherheit und lässt Angst aufkommen.

Dann erleben wir, in einer grossartigen Totalen von weit weg aufgenommen, ein hektisches Hin und Her der Familienmitglieder mit Fremden, was weiter Ungewissheit auslöst.

Unvermittelt fragt die Mutter ihren Ältesten nach dem besten Film aller Zeiten, und dieser beginnt, von «2001: Odyssee im Weltraum» zu schwärmen, der durch Raum und Zeit in einem schwarzen Loch verschwindet. Eine weitere Einladung zum Hinterfragen?

Der Vater erzählt dem Jüngeren vom «Batman»-Film, wo Scarecrow einen Angst-Virus verbreitet, und die Szene endet, während die beiden im Sternenhimmel verschwinden. Bloss lustig oder ein Hinweis auf eine Flucht aus dieser Welt?

Gegen Ende mehren sich die Szenen und bündeln sich Handlungen zu einem Furioso, das mitreisst, bis wir langsam, wenn es uns glückt, Antworten erspüren und vermuten, was hier abläuft und noch ablaufen wird.
                                
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Die Mutter mit dem älteren Sohn

Hintergründe, die helfen, den Film zu verstehen

Die folgenden Informationen habe ich in Sennhausers Filmblog gefunden und hoffe, dass Michael mir meinen «Diebstahl» verzeiht.

Am 23. Mai 2022 ist in der iranischen Stadt Abadan ein zehnstöckiges Haus eingestürzt. Das führte zu massiven Protesten gegen angebliche behördliche Inkompetenz, diese wiederum zu Polizeigewalt, gegen die rund 70 iranische Filmemacher unter der Führung von Mohamad Rasoulof und Mustafa Aleahmad mit einem offenen Brief protestierten. Die beiden wurden verhaftet. Ebenfalls Jafar Panahi, der sich nach deren Verbleib erkundigte.

Mohamad Rasoulof hat vor vier Jahren mit «There is no Evil» an der Berlinale gewonnen, Jafar Panahi fünf Jahre früher mit «Taxi Teheran». beiden wurden 2011 zum ersten Mal verhaftet, weil sie ohne Erlaubnis Filme gedreht hatten. Ihnen wurde das Filmemachen für 20 Jahre verboten. Von Jafar Panahi hiess es, er habe seither unter Hausarrest gestanden. Das stimmt nicht, sagt die Produzentin Nasrine Médard de Chardon, es sei schlimmer, er wisse nie, ob und wann er wieder verhaftet würde. Diesen Montag war es so weit, das grausame Spiel ging wieder los: Die Filmemacher werden wieder vor Gericht gestellt. Auch der Sohn von Jafar Panahi ist im Visier der Behörden. Er blieb im Land, wo er «Hit the Road» gedreht hatte. Erfolglos hat die Filmcoopi versucht, ihn ans Zürich Film Festival und ans Menschenrechtsfilmfestival nach Genf zu holen.

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Rahma proletet seine Lebenslust in die Welt hinaus

Aus einem Interview von Barbara Schurter mit dem Autor, integral im Internet

Ist «Hit the Road» ein politischer Film? Glauben Sie, dass er im Iran als solcher angesehen wird? Das iranische Publikum wird seinen politischen Aspekt definitiv wahrnehmen und herauslesen. Für Iraner ist es keine Frage, dass der ältere Sohn der Familie das Land verlassen will oder muss. Sie können das nachvollziehen. Ich selbst mag zwar grundsätzlich Filme, die universal, allgemeingültig und international verständlich sind. Deshalb wollte ich die politische Ebene bewusst nicht zu stark hervorheben. Vielmehr war mir wichtig, die Geschichte dieser Familie zu erzählen, die auch die Geschichte einer Abnabelung ist und davon erzählt, wie sich ein Sohn, der nun alt genug ist, von seiner Familie trennt, in eine ungewisse Zukunft aufbricht, egal wo diese sein wird, und wie er und seine Familie mit dieser Situation umgehen. Das stand für mich im Vordergrund.

Der Zuschauer bewegt sich mit der Familie aus Teheran auf die Landesgrenze zu, die der Sohn illegal überschreitet. Wie viel Realität steckt in der gezeigten Route? Die Idee für diesen Film war nicht schwierig zu finden. Vor allem Menschen meiner Generation haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt, wurden damit konfrontiert. In fast jeder Familie gibt es jemanden, der auf diesem Weg das Land verlassen hat. Auch zwei meiner engsten Freunde sind so illegal aus ihrer Heimat geflohen. Das heisst, «Hit the Road» greift kein Thema auf, das hier fremd ist. Es liegt in der Luft, weil es für viele keine Perspektive, keine Hoffnung mehr gibt. Es ist ein allgemeingültiges Thema. Man braucht sich nichts vorzumachen: Sogar die Machthaber im Iran, die Politikerschicht, schicken ihre Kinder ins Ausland. Selbst sie wissen also, dass es für die junge Generation keine Perspektiven gibt.

Regie: Panah Panahi, Produktion: 2021, Länge: 94 min, Verleih: Filmcoopi