Les filles d'Olfa

Eine Ode an die Frau: Kaouther Ben Hania erzählt im Film «Les filles d’Olfa» die wahre Geschichte einer Mutter, deren zwei älteste Töchter verschwunden sind. Um sich dieser Familiengeschichte und den Entwicklungen in Tunesien mit der nötigen Distanz zu nähern, lässt sie drei Schauspielerinnen auftreten und verwebt in einer meisterlich fesselnden Inszenierung Dokument und Fiktion. Ab 5. Oktober im Kino
Les filles d'Olfa

Vier junge Tunesierinnen

In Tunesien ist die Geschichte von Olfa Hamrouni bekannt, hat die Mutter von vier Töchtern doch 2016 ihr Schicksal öffentlich gemacht. Ghofrane und Rahma hatten als Teenager Tunesien verlassen, um an der Seite des IS in Libyen zu kämpfen; die Mutter und die jüngeren Töchter Eya und Tayssir blieben zurück und fragten sich: Was war geschehen? Wie war das möglich?

Kaouther Ben Hania war auf die Mutter aufmerksam geworden und wollte einen Film mit ihr drehen. Keine Reportage, die es nicht erlaubt, Facetten einer Persönlichkeit zu erforschen, Widersprüchen nachzugehen, Erfahrungen nachzuspüren», will die Filmemacherin. Es sei «die Aufgabe des Kinos, diese Zonen auszuleuchten, die Vielschichtigkeit der menschlichen Seele.» Ihr bisheriges Werk ist geprägt von Geschichten, die auf realen Vorkommnissen beruhen und beflügelt sind von ihrem Bestreben, diesen mit adäquaten filmischen Ansätzen zu begegnen. So in «La Belle et la Meute» mit dem verzweifelten Versuch einer vergewaltigten Frau Gehör zu finden oder in «The Man Who Sold His Skin» über einen Syrer, der nach Europa reisen möchte, dies erst schafft, indem er aus seinem Körper ein Kunstwerk gestalten liess.

Bei «Olfa» entschied sie sich, Dokument und Fiktion zu verschmelzen, Schauspielerinnen einzusetzen, um das Fehlen der beiden Töchter zu überbrücken und die Mutter in jenen Momenten zu entlasten, in denen das Berichtete ihr zu viel Schmerz bereiten würde oder sie in Klischeeverhalten aufgrund ihrer Erfahrungen mit den Medien verfallen könnte. Fesselnd an diesem Film auch, dass Kaouther Ben Hania als Regisseurin dabei ist und mitmischt, was den Ansatz transparent macht und gleichzeitig zur Leichtigkeit beiträgt, mit der die Frauen die Fragen des Frauseins in einer männlich geprägten Welt verhandeln. Sie dachte, dass sie Olfa am besten auf den Boden der Realität und zu ihren wahren Erinnerungen zurückholen konnte, indem sie vorgeben, einen Dokumentarfilm über die Vorbereitungen zu einem Spielfilm zu drehen.

Was wir nun zu sehen bekommen, ist ein zutiefst aufrichtiger Versuch, ein Stück Wirklichkeit mit dokumentarischen wie mit fiktiven Mitteln zu erzählen und dabei über das Erzählen selber zu sinnieren und über die Frage, was es mit uns und unserer Wahrnehmung von Wirklichkeit macht. Das ist etwas vom Anregendsten, was das Kino in Zeiten von Fake News zu bieten hat: kraftvoll, intelligent, lokal und universell in einem.

Olfa 01

Tayssir und Eya, die lüngeren Töchter

Aus einem Interview mit Kaouther Ben Hania

Wenn Filme eine fremde Welt wie in «Les filles d’Olfa», eine Filmemacherin brillant schreibt wie Kaouther Ben Hania, scheint es mir richtig, ihr das Wort zu geben: hier in Ausschnitten, im Anhang integral aus einem Interview im trigon-Magazin 98:  

«Am Radio hörte ich Olfa von der tragischen Geschichte ihrer Töchter erzählen, was mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Es ging um die Geschichte einer Mutter mit Töchtern im Teenager-Alter. Ich war fasziniert von Olfa und sah in ihr eine wunderbare Filmfigur. Sie verkörperte eine Mutter mit all ihren Widersprüchen und Zweifeln, ihren aufgewühlten Seiten auch. Die komplexe, schreckliche Geschichte liess mir keine Ruhe.

Ich habe verschiedene Stadien durchlaufen. In einer ersten Phase dachte ich, sie mit ihren zwei verbliebenen Töchtern zu filmen, um die Abwesenheit der beiden andern zum Ausdruck zu bringen. Aber irgendwie stimmte etwas nicht. Wie konnten wir die Erinnerungen wiederbeleben, ohne sie zu beschönigen, sie zu verändern, die Wahrheit zu verwässern? Wie etwas herbeirufen, das stattgefunden hat und nicht mehr da ist? Wie kann man sich Jahre später der Wahrheit der eigenen Vergangenheit stellen? Am problematischsten war, dass Olfa eine Rolle spielte.

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Die jüngere Tochter (l) mit dem Double von Olfa

Mir fällt auf, dass man sich im Leben oft auf eine Art benimmt, die von Klischees beeinflusst ist, die man am TV oder in Zeitungen gesehen hat. Olfa war von den Medienleuten geformt worden. Die meisten Reportagen erlauben es nicht, unterschiedliche Facetten einer Persönlichkeit zu erforschen. Olfa ist aber so überschwänglich, gespalten und komplex, dass es unmöglich war, nur eine Seite von ihr abzubilden. Widersprüchen nachgehen, Erfahrungen nachspüren und Empfindungen vertiefen braucht Zeit, die Medienleute nicht haben. Es ist die Aufgabe des Kinos, diese Zonen auszuleuchten, die Vielschichtigkeit der menschlichen Seele. So fing ich an, den Film als therapeutisches Labor zu verstehen, in dem Erinnerungen wachgerufen werden.

Ich wollte Olfa mit professionellen Schauspielerinnen konfrontieren, damit sie selber keine Rolle mehr spielen musste. Die Profis konnten Olfa und den Mädchen helfen, zu ihrer inneren Wahrheit vorzudringen. Ich brauchte zwei Schauspielerinnen für die verschwundenen Töchter und eine, um Olfa zu reflektieren, ihr zu helfen, die grossen Herausforderungen zu verstehen, vor die sie das Leben gestellt hatte. Mich interessierte nicht das Hervorholen der Erinnerungen, sondern der Austausch, der stattfand, um dorthin zu gelangen. Ich griff als Filmemacherin in den Film ein, um sie zu führen, mich gemeinsam mit ihnen auf die Suche zu machen, während Olfa die grossen Ereignisse ihres Lebens erzählte und sie analysierte.»

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Olfas und ihre Schauspielerin und «Dolmetscherin»

Eine wunderbare Ode an die Frau

Die vier professionellen Schauspielerinnen, die zwei überlebenden Töchter und die Mutter Olfas stehen, erzählend und spielend, für die Frauen Tunesiens, des Islams, der ganzen Welt; konfrontiert mit einem Mann, der für alle Männer dasteht und in seiner gottgewollten Arroganz Macht ausspielt.

Selbst wenn wir Zuschauenden gelegentlich ein Durcheinander haben mit den Namen der sechs Frauen, kommt uns der Film von Szene zu Szene näher, berührt und bewegt uns, emotional und intellektuell. All die Worte und Bilder, die kurzen und langen Gespräche, die lustigen und unterhaltsamen Episoden, die traurigen und heiteren Momente reihen sich wie die Perlen einer unendlich langen kostbaren Perlenkette oder eines vom Beten abgenützten Rosenkranzes aneinander.

«Les filles d’Olfa» ist ein im Ozean der männerdominierenden Medienwelt eine Insel der Frauen, wo Kaouther Ben Hani mit ihrer ästhetischen und ethischen Meisterschaft eine wunderbare Ode auf die Frau geschaffen hat.

Gespräch mit Kaouther Ben Hani

Regie: Kaouther Ben Hania, Produktion: 2022, Länge: 107 min, Verleih: trigon-film