Lingui
Tochter Maria
Amina ist eine alleinerziehende Mutter, die mit ihrer Tochter Maria am Rande von N'Djamena, Tschads Hauptstadt, in Zentralafrika lebt. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich mit dem Verkauf kleiner Feuerschalen, die sie mit dem Draht aus ausrangierten LKW-Reifen verfertigt. Schon als junge Frau musste sie sich alleine durchschlagen: Als sie schwanger war, wurde sie erst von der Schule verwiesen und schliesslich von ihrer Familie verstossen. Obwohl ihr Stand als alleinstehende Frau ein schwieriger ist, lehnt sie eine Heirat mit ihrem Nachbarn Brahim, dessen Avancen sie zaghaft erwidert, ab: «Wir brauchen keinen Schutz», erwidert sie selbstbewusst auf seine Versprechen, sie und ihre Tochter zu beschützen.
Jetzt droht sich das Szenario zu wiederholen, denn die 15-jährige Maria erwartet ebenfalls ein Kind. Gerüchte machen die Runde, bald folgt der Schulverweis. Maria versucht, ihre Misere vor Amina zu verheimlichen, doch die ahnt bereits, was mit ihrer Tochter los ist. Als Maria eröffnet, dass sie abtreiben möchte, kommt das für Amina zunächst nicht in Frage: Sie ist eine gläubige Frau und will den Vater des ungeborenen Kindes in der Verantwortung sehen. Für Maria eine unmögliche Option, wie auch Amina erkennen muss. Sie beschliesst, ihre Tochter in ihrer Entscheidung zu unterstützen, selbst wenn sie damit gegen Gesetz und Religion verstösst.
Im Tschad sind Schwangerschaftsabbrüche verboten und werden mit harten Strafen geahndet. Bleibt die Möglichkeit, die Dienste einer traditionellen Heilerin in Anspruch zu nehmen, doch das Risiko dabei ist gross. Mutig versuchen die beiden Frauen, gemeinsam eine Lösung zu finden, und stossen auf eine Klinik, die Abtreibungen professionell und heimlich durchführt. Der Preis dafür ist exorbitant. Doch Amina ist fest entschlossen, das Geld dafür aufzutreiben.
Mutter Amina
Das heilige Band
Der Regisseur Mahamat-Saleh Haroun greift ein universelles Thema auf, das leider immer noch aktuell ist, nicht nur in Afrika – auch in Europa gibt es immer noch restriktive Gesetze, die von rückschrittlichen Parlamenten verabschiedet werden. Der tschadische Filmemacher nimmt sich des Themas auf seine Weise an, beobachtet die Umgebung genau, taucht in die Vororte der pulsierenden Stadt ein, nähert sich in ihren Gassen den Menschen, die sie beleben. Die erste Sequenz zeigt dies beispielhaft. Die Kamera folgt der harten Arbeit von Amina, die ihre Kohlebecken herstellt und dann versucht, sie für ein paar Tausend CFA-Francs zu verkaufen. Eine leise Poesie liegt in diesen Bildern, die in der Thematik wie in der Betrachtungsweise an den italienischen Neorealismus erinnern. Am meisten berührt uns jedoch die Solidarität der Frauen – das «heilige Band», das das titelgebende Wort «Lingui» meint. Im Lauf der Handlung entdecken Mutter Amina und Tochter Maria, dass sie nicht so isoliert sind, wie sie dachten, und dass sie es sind, die Geschichte schreiben.
Tschads Jugend zwischen gestern und heute
Biofilmografie des Regisseurs
Mahamat-Saleh Haroun wurde 1961 in Abeche, Tschad, geboren. Er war acht Jahre alt, als er seinen ersten Film sah. Eine unauslöschliche Erinnerung hat sich ihm eingeprägt: das Lächeln einer indischen Frau vor der Kamera. Er dachte, das Lächeln würde ihm allein gelten. – Über Kamerun kam Haroun nach Paris; zwischen Gelegenheitsjobs studierte er, wurde Journalist, bevor er sich in den 1990er Jahren der Regie zuwandte und mehrere Kurzfilme drehte. Sein erster Spielfilm, «Bye-bye Africa», wurde 1999 in Venedig als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet. Es folgten «Abouna», 2002 bei der Quinzaine des realisateurs in Cannes vorgestellt. «Daratt» erhielt 2006 in Venedig den Spezialpreis der Jury und «Un homme qui crie» 2010 den Jury-Preis in Cannes. Im selben Jahr wurde ihm beim Filmfestival in Venedig der Robert-Bresson-Preis für sein Gesamtwerk verliehen. Es folgten drei weitere Filme. Mit «Lingui» kehrte er erneut in seine Heimat zurück. Mahamat-Saleh Haroun ist auch Romanautor, sein erster Roman «Djibril ou les ombres portées» erschien 2017.
Die Hebamme mit Amina und Maria
Feminismus versus Patriarchat – Aus einem Interview mit dem Regisseur
(Das integrale Interview ist im Anhang.)
Mit dem folgenden Text werden Vorgeschichte, Hintergrund und Zielsetzung des Films «Lingui» beschrieben; die Geschichte ist wunderbar klar und einfach, dass ich nicht darauf eingehe. Und wenn Filmemacher so klug sind wie Mahamat-Saleh Haroun, und ich das von ihnen Formulierte wiederholen müsste, dann lasse ich ihnen gern das Wort. So auch hier:
Was bedeutet «Lingui»? Das ist ein tschadisches Wort und meint «Band» oder «Verbindung». Es ist das, was die Menschen im Zusammenleben verbindet. Es ist ein Begriff, der Solidarität und gegenseitige Unterstützung impliziert. Ich kann nur existieren, weil andere existieren: Das ist «Lingui», das ist der rote Faden, das heilige Band unseres sozialen Gefüges – es geht dabei also um eine altruistische Lebenseinstellung.
Es ist Ihr erster Film, in dem Frauen die Hauptrolle spielen. Hatten Sie ein Projekt, bei dem das Leben tschadischer Frauen Mittelpunkt steht, schon lange geplant? Ja, ich wollte schon seit einiger Zeit das Porträt einer tschadischen Frau zeichnen, so wie ich sie kenne. Es sind alleinstehende Frauen, verwitwet oder geschieden, die ihre Kinder alleine grossziehen. Von der Gesellschaft oft verachtet, schaffen sie es doch, über die Runden zu kommen. Ich kannte eine Frau, die nach dem Tod ihres Mannes mit den Kindern allein war. Um Geld zu verdienen, sammelte sie Plastiktüten und fertigte daraus Seile zum Verkauf an. Ich wollte das Leben der Frauen zeigen, die an den Rand gedrängt sind, sich aber nicht als Opfer sehen. Sie sind die unbesungenen Heldinnen des täglichen Lebens. In Tschad gab es den Versuch, ein Familiengesetz zu verabschieden, das Frauen bei Schwangerschaft und Verhütung helfen sollte, eine Art Stütze in der Familienplanung. Es kam nie dazu. Abtreibungen sind verboten. Einige Ärzte praktizieren sie ganz offen, um Frauen in Not zu helfen. Im Namen von «Lingui».
Lingui ist feminin und auch feministisch. Existiert die Idee des Feminismus in der tschadischen Gesellschaft? Nicht als Theorie oder Glaubenssatz, sondern im täglichen Leben. Ich sehe junge tschadische Frauen, die lange studiert haben und eine Familie gründen wollen: Sie können es nicht, weil die Gesellschaft es ablehnt, dass sie so viel Geld verdienen. Man hält sie für zu unabhängig, zu frei. Diese Frauen treffen sich, um offen über ihr Leben zu sprechen, ihre Erfahrungen auszutauschen, sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen. Es ist ein Feminismus, der nicht offen etwas fordert, aber sehr aktiv ist. Diese Frauen organisieren häufig private Fonds, mit denen sie verschiedene Projekte finanzieren oder bedürftigen Personen helfen. Auf diese Weise finden sie Mittel und Wege, sich der festgefahrenen patriarchalischen Ordnung zu widersetzen. Ich war schon immer sehr empfänglich für die Belange der Frauen, da ich von meiner aussergewöhnlichen Grossmutter erzogen wurde. Eine starke Frau, die mich ein Leben lang geprägt hat. Als ihr Mann (mein Grossvater) sich eine zweite Frau nahm, stieg meine Grossmutter mit ihrem Sohn (meinem Vater) auf ein Pferd und floh. Mein Grossvater holte sie ein und nahm ihr den Sohn weg. Meine Grossmutter hat nie wieder geheiratet und hatte auch keine weiteren Kinder. Sie hatte wohl trotzdem ein Liebesleben, nur ohne schwanger zu werden. Ich möchte gerne glauben, dass sie in Tschad die Verhütung erfunden hat! Diese resolute Frau ist immer an meiner Seite. Ich wollte all diesen freigeistigen Frauen, die wie meine Grossmutter voller Kampflust sind, eine Hommage erweisen.
Wo liegen die Wurzeln des tschadischen Patriarchats: in der angestammten tschadischen Kultur oder in der muslimischen Religion? In einer Kombination davon. Es hängt sowohl mit den politischen Strukturen als auch mit der Religion zusammen, zwei Phänomene, die in den Tschad importiert wurden. Von dem Moment an, da die Religion der Gesellschaft moralische Kriterien auferlegte, stagnierte die Gesellschaft und wurde mit neu geschaffenen Geboten und Verboten belegt. Nachdem sich Tschad 1960 von der französischen Kolonialisierung befreit hatte, hielt die politische Macht die Bevölkerung im Zaum, anstatt mehr Freiheit zu fördern. In der Politik geht es um das Streben nach Macht, in der Religion um Dogmen, ebenfalls eine Form von Macht. Beide Instanzen haben viele gemeinsame Interessen. Aber Frauen tragen Erinnerungen und Lebenserfahrungen weiter, die mächtiger sind als die herrschenden Diskurse und Verbote. Sie sind sich ihrer Lage und der Schwierigkeiten, die sie zu bewältigen haben, sehr bewusst und wussten immer damit umzugehen. Sie haben nicht auf die Religion gewartet, um sich sagen zu lassen, wie sie mit ihrem Körper umzugehen haben, ob sie Kinder bekommen sollen oder nicht.
Interview mit Mahamat-Saleh Haroun