Memory
Sylvia arbeitet als Sozialarbeiterin in New York in einem Heim für Erwachsene mit psychischen Erkrankungen. Als alleinerziehende Mutter führt sie ein einfaches, strukturiertes Leben mit ihrer Tochter Anna und besucht regelmässig die Treffen der Anonymen Alkoholiker. In diesem Umfeld, der heruntergekommenen, nicht der glamourösen Stadt, ist sie auf dem Weg zu sich selbst. Nach dem Jubiläum ihres ehemaligen High-School-Jahrgangs wird sie von einem Mann bis nach Hause verfolgt. Verängstigt sperrt sie die Tür zu und zieht die Vorhänge. Am nächsten Morgen sitzt der Verfolger immer noch, tropfnass und frierend, unter ihrem Fenster. Saul, sein Name, hat sich wegen beginnender Demenz verlaufen. Doch die beiden verbindet Ähnliches: die Macht des Erinnerns und die Ohnmacht des Vergessens. Während sie versucht, ihre schmerzliche Vergangenheit zu vergessen, kämpft er gegen den beginnenden Verlust seiner Erinnerungen. Wider jede Erwartung und Vernunft, und gegen alle Hindernisse, findet die Geschichte von «Memory» des mexikanischen Regisseurs Michel Franco für beide und für uns eine offene Lösung für die Zukunft.
Jessica Chastain als Sylvia
Einstieg mit einem existenziellen Thriller
Ist Saul ein Stalker, der sich an Sylvia heranmacht? Das scheint wahrscheinlich, bis sein Bruder Isaak erklärt, dass dieser an Demenz leide. Doch was ist der Grund, dass die Begegnung mit Saul die erfahrene Sozialarbeiterin dermassen in Angst und Schrecken versetzt? Wurde sie in der Jugend von Saul oder dessen Kollegen missbraucht? Um den Grund des Vergessens oder Erinnerns bei ihm und ihr geht es imzehnten Film des Filmemachers.
Früh erlebter, dann vergessener oder verdrängter seelischer oder sexueller Missbrauch wird in vielen Filmen thematisiert, so in «Burning Memories» von Alice Schmid. Geschichten über Demenz und Alzheimer behandeln ebenso zahlreiche Filme, so «The Father» von Florian Zeller. Diese dokumentarischen und fiktionalen Filme über das Vergessen in psychologischer, medizinischer und sozialer Sicht werden mit dem Spielfilm «Memory» mit einer existenziellen Dimension erweitert und vertieft.
Peter Sarsgaard als Saul
Von den vergangenen Leiden ...
Sauls Nichte überredet Sylvia, ihrem einsamen Onkel gelegentlich Gesellschaft zu leisten. Ihre Wege kreuzen sich häufiger und ihre Beziehung werden intensiver, bis Unerwartetes aus dem innersten Familienkreis bekannt wird. Zu jeder Vermutung oder Behauptung stellen sich Fragen nach der Wahrheit oder Wahrhaftigkeit. Und es gilt immer neu, die Gründe hinter ihrem Tun und Verhalten zu finden, anzusprechen, zu akzeptieren und damit zu leben. Dafür verwendet der Regisseur absichtlich eine unzuverlässige Erzählsituation. Nie ist jemand sicher, allein schon deshalb, weil es verschiedene Perspektiven gibt. Kaum scheint etwas klar, wird es erneut infrage gestellt. Doch unter der Oberfläche der vielschichtigen Geschichte bahnt Verdrängtes seinen Weg nach draussen.
Wie Saul, so hat auch Sylvia im Leben eine schwere Last zu tragen. Nach einem traumatischen Ereignis in ihrer Jugend wurde sie Alkoholikerin, nun, nach 13 Jahren, ist sie wieder trocken und möchte, dass ihrer Tochter unbedingt ein solches Schicksal erspart wird. Doch diese leidet darunter, dass ihre Mutter sie extrem kontrolliert und überwacht.
Wo andere Filmemacher zu grossen Mitleidsgesten neigen, beobachtet Franco die Szenen aus der Ferne. Er zeigt Sylvia von hinten und verbirgt ihr Gesicht. Die kluge Kameraarbeit von Yves Cape sorgt für eine befremdliche und gleichzeitig tieftraurige Spannung. Die Bildausschnitte stellen Mauern zwischen die Figuren und das Publikum. Die meist statisch verharrende Kamera sucht keine Nähe und hält die Gefühle auf Abstand. Der Film testet in seiner mit kühlen Farbtönen gestalteten Ästhetik, wie sich das Publikum zu den Handlungen verhält.
Sylvia mit Tochter Anna
... zur Annäherung in die Gegenwart
Lydia stürzt sich in eine Affäre mit Saul, dem personifizierten Vergessen. Er lebt das, was sie nicht leben kann. Sie verlieben sich, auch wenn sie sich kaum kennen und verstehen. Sie wagen eine ungewohnte Form der Beziehung, obwohl sie befürchten, dass sie im Verlust enden kann. Der Regisseur stellt uns keine Leidensgeschichte vor, deren Hauptfiguren einen Seelenstriptease hinzulegen haben, sondern versucht eine kritische Abrechnung beider Protagonisten. Das Publikum weiss es oft besser als sie selbst, wie es der Leidgeplagten und dem Erkrankten geht.
«Memory» erzählt gleichzeitig die tragische Geschichte einer schleichenden Entmündigung, denn man traut den Figuren immer weniger zu, ihre Aufgaben selbst lösen zu können, gönnt ihnen kein eigenes Glück, raubt ihnen die Selbstbestimmung. Dass der Film dennoch gegen Ende so etwas wie Hoffnung aufkommen lässt, entstammt den unerwarteten Wendungen der Handlung, wie wir sie etwa in den einfühlsam gezeigten hilflosen, fast schon pubertären Annäherungsversuchen der beiden Verliebten erleben.
Saul und Sylvia
Anmerkung des Regisseurs Michel Franco
Mein Ziel mit «Memory» war, einen Film über Menschen zu drehen, die, aus welchem Grund auch immer, durch die Raster der Gesellschaft fallen. Ihre Unfähigkeit oder ihr Unwille, den an sie gestellten Erwartungen zu entsprechen, ist oft auf Erlebnisse zurückzuführen, die nur in der Erinnerung existieren. Manchmal jedoch bietet gerade ihre Marginalisierung einen Ausweg, um dem Schatten der Vergangenheit zu entkommen. Es kann dann zur Chance werden, sich ein neues Leben in der Gegenwart aufzubauen. Mit «Memory» stelle ich die Frage, ob man wirklich den Schatten der Vergangenheit entkommen kann.
Nemo mit «The Code»
Nach dem ESC-Sieg von Nemo mit «The Code»
Wer die Anmerkung von Michel Franco zu seinem Film gelesen und am 12. Mai 2024 um Mitternacht den Eurovision Song Contest mit dem Sieg von Nemo erlebt hat, kann seinen Song «The Code» wie eine leise Antwort auf die schwierige, ja dilemmatische Situation im Film «Memory» lesen und als Fantasieren und Weiterdenken verstehen. Ich habe ihn so empfunden und vermute, dass ich damit nicht allein bin. – Nachfolgend der übersetzte Text:
Ich ging durch die Hölle und zurück,
um mich auf Kurs zu bringen.
Ich habe den Code gebrochen.
Wie Ammoniten
habe ich mir einfach etwas Zeit gegeben.
Jetzt habe ich das Paradies gefunden.
Ich habe den Code gebrochen,
irgendwo zwischen den Nullen und Einsen.
Dort habe ich mein Jenseits gefunden.