The Father

Wer bin ich eigentlich?: Der von Florian Zeller inszenierte Spielfilm «The Father» ist das berührende Porträt eines Alzheimerkranken, ganz aus dessen Sicht gefilmt, grossartig gespielt von Anthony Hopkins als kranker Vater und Olivia Colman als fürsorgliche Tochter. Ein Meisterwerk, das verunsichert und gelegentlich wehtut.
The Father

Anthony leidet an beginnender Demenz.

Anthony ist 81, lebt allein und verweigert sich allen Pflegenden, die seine Tochter Anne ihm zu vermitteln versucht. Doch diese Notwendigkeit wird immer dringlicher, da sie ihn nicht mehr jeden Tag besuchen kann. Denn sie hat den Entschluss gefasst, nach Paris zu ziehen. Während Anthony versucht, sich mit der aufkommenden Demenz und den veränderten Lebensumständen zu arrangieren, beginnt er, an seinen Lieben, seinem Verstand und schliesslich an der ganzen Welt zu zweifeln, weil diese ihm immer mehr abhandenkommt. Bei vielen Handlungen in diesem absichtlich verwirrenden, dennoch wunderbaren Film weiss man nie, ob sie stimmen.

Als Ingenieur hat es Anthony (Anthony Hopkins, für diese Rolle 2021 mit dem Oscar für den besten männlichen Hauptdarsteller ausgezeichnet) weit gebracht und verbringt nun seinen Lebensabend in einer stattlichen Wohnung im angesehenen London-Stadtbezirk Westminster. Er will sein Leben geniessen. Ob ihm das gelint, wenn er von seiner Pflegerin bestohlen wird? Sicher ist auch das nicht. Lediglich wissen wir, dass seine Tochter Anne wieder eine neue Pflegerin finden muss, nachdem er die letzte mit Schimpf und Schande verjagt hat. Doch Hilfe braucht Anthony unbedingt, denn er hat Demenz, eine Vorform der Alzheimerkrankheit; es vermischen sich Dinge in seinem Kopf, er erkennt andere Menschen plötzlich nicht mehr und fragt ständig nach seiner verstorbenen To«Nebelgrindchter Lucy.

So etwa verläuft die Geschichte, wenn wir sie als Aussenstehende auf dem Boden unseres Bewusstseins erleben. Doch Florian Zeller, der geniale Drehbuchautor und Regisseur, erzählt sie so, dass wir sie mit Anthony vom Standpunkt eines Menschen wahrnehmen, der immer häufiger klagt: «Ich verstehe nicht mehr, was passiert.»    

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Tochter Anne umsorgt ihren Vater.

Zahlen zu Demenz und Alzheimer


Alzheimer und dessen Vorstufe Demenz sind gesellschaftlich und gesundheitspolitisch wohl eine der bedeutendsten Krankheiten in den westlichen Ländern. Dazu ein paar Zahlen: Aktuell leben in der Schweiz schätzungsweise 148'000 Menschen, die an einer der verschiedenen Formen der Krankheit leiden, jährlich kommen etwa 30'000 dazu, und aufgrund der Alterung der Bevölkerung dürfte sich ihre Zahl bis 2040 verdoppeln.

Etwa 6'000 Franken kostet ein Mensch mit Demenz jährlich das Gesundheitswesen, wenn er oder sie zuhause in Partnerschaft lebt. Bei schwerem Alzheimer mit Aufenthalt im Heim steigen diese Kosten über 70'000 Franken. Aufwand insgesamt für das Gesundheitssystem rund 5,5 Milliarden Franken pro Jahr, Tendenz steigend.

Da meine Filmbesprechung keine medizinische Abhandlung ist, verwende ich die Begriffe Demenz und Alzheimer fast synonym, Demenz eher als Vorstufe von Alzheimer, und lasse die Grenzen und Übergänge unberücksichtigt.«Small World»(

Einige Filme zum Thema


Bei einem Thema von solch volkswirtschaftlicher Bedeutung und menschlicher Tragik liegt es auf der Hand, dass auch Kino- und Fernseh-, Spiel- und Dokumentarfilme sich der Thematik annehmen, in den meisten Fällen aus der Perspektive der Angehörigen. Hier ein paar zufällig gewählte Titel:

«Still Alice» von Richard Glatzer und Wash Westmoreland, «Nebelgrind» von Barbara Kulcsar, «Pandora’s Box» von Yesim Ustaoglu, «Gatos viejos» von Pedro Peirano und Sebastián Silva, «Heute ist nicht morgen. Leben mit Demenz» von Nico Gutmann und «Small World» von Bruno Chiche.

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Das Leben des 81-Jährigen verändert sich radikal

Innenansicht eines Alzheimerkranken


Im Rahmen der Demenz- und Alzheimer-Dramen im Kino nimmt «The Father» eine Sonderstellung ein: Der Film ist fast komplett aus Anthonys Sicht gedreht, de(ssen Verstand ihm sukzessiv abhandenkommt. Wir erleben durch seine Augen immer häufiger Seltsames, das uns allmählich auch an uns zweifeln lässt: ein Gefühls- und Bewusstseinschaos! So ist es möglich, dass wir, wie Anthony, plötzlich nicht mehr wissen, was stimmt. Wenn wir die Szenen des Films wie einen konventionellen Krimi zu verstehen versuchen, bekommen wir Schwierigkeiten, wie Anthony.

Florian Zeller nimmt mit «The Father» sein eigenes, preisgekröntes Theaterstück «Le père», das bereits von Philippe Le Guay unter dem Titel «Floride» als Roadmovie verfilmt wurde, als Vorlage. Im Gegensatz dazu spielt «The Father» fast ausschliesslich in den Räumen einer Wohnung. Zwar erinnert un(s diese ans Theaterstück, doch dank der Inszenierung, mit der Zeller uns über weite Strecken ebenfalls den Boden unter den Füssen wegzieht, fällt dies nicht negativ auf, sondern verdichtet die Geschichte zu einer Parabel, die auch für uns gültig ist.


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Eine Pflegerin, Anne, Anthony

 

Zum Innern auch unserer Existenz

Dass uns der Film, nach anfänglicher Verwirrung, allmählich immer stärker unter die Haut geht, kommt wohl daher, dass wir uns mit Anthony identifizieren, die Menschen und die Welt rundum mit seinen Sinnen wahrnehmen. Ein Filmerlebnis von seltener Intensität! Der französische Schriftsteller und Theater-Regisseur hat in den vergangenen Jahren bereits den Ruf als bedeutender Dramatiker erworben. Seine Stücke und Aufführungen werden gefeiert, Stars stehen Schlange, um unter seiner Regie auf der Bühne stehen zu dürfen. Mit «The Father» feiert er nun auch seinen Einzug in die Kinowelt.

Mit den spezifischen Mitteln des Kinos zwingt der Filmemacher sein Publikum, zu erleben, was Alzheimer ist oder sein kann; unterstützt vom grossartigen Duo vor der Kamera, der Bildgestaltung von Ben Smithard und dem Schnitt von Yorgos Lamprinos. Alle sind miteinander verantwortlich, dass auf der Leinwand eine Wirklichkeit entsteht, wie wir sie im Kino nur selten erleben. Im Laufe der 97 Filmminuten intensivieren sich die Wahrnehmungen des dementen Mannes von Szene zu Szene. Aus Anthonys Wohnung wird zeitweise das Appartement seiner Tochter. Und zu ihr, die kurz zuvor mit einem frischen Hühnchen die Wohnung betreten hat, sagt er, er habe sie noch nie gesehen. Gegen Schluss des aufwühlenden Dramas befindet sich Anthony in einem Heim, wo er resigniert in seine Kindheit zurück versinkt. Dem Film gelingt es, mithilfe eingestreuter unsicherer Informationen die sukzessive sich verstärkende Desorientierung des Protagonisten für uns nachvollziehbar zu machen. Sobald man jedoch in Zellers Erzähl- und Inszenierungsstil eingetaucht ist, wird man mit der reichen, doch erschütternden und traurigen Welt von Anthony konfrontiert. Eines Menschen, der redegewandt, starrköpfig, böse und bissig, aber auch sympathisch, kindlich und charmant ist und sich schliesslich sozusagen in uns niederlässt. Personen, Orte und Zeiten vermischen sich in seinem und ansatzweise auch in unserem Kopf und Herzen.

Die andere Seite der Alzheimer-Problematik, jene der Angehörigen, kommt in «The Father» ebenfalls ausführlich zur Darstellung: primär in der Figur von Anne, grossartig gespielt von Olivia Colman, die damit für den Oscar als beste Nebendarstellerin nominiert wurde, die während des ganzen Films die vielfältigen und berührenden Regungen von Menschen, die Alzheimerkranken nahestehen, verkörpert. Ergänzt durch die andern Figuren des Dramas, die weitere Aspekte von Anthonys Umfeld repräsentieren.

Regie: Florian Zeller, Produktion: 2020, Länge: 97 min, Verleih. Ascot Elite