Nezouh
Amer auf und Zeina unter dem Dach
Filme über Syrien berichten meist von den Greueltaten des Machthabers Baschar al-Assad, beispielsweise «For Sama», in dem Waad al-Kateab und Edward Watts aus der Hölle von Aleppo berichten; vergleichbar mit «Capharnaum – Stadt der Hoffnung» aus dem Libanon, in dem Nadine Labaki die Welt durch die Augen eines Kindes beschreibt; formal und regional unserem Film näher der Dokumentar-Märchenfilm «Réveil sur Mars» der schweizerisch-albanischen Cineastin Dea Gjinovci. Und damit sind wir bei Soudade Kaadans Film «Nezouh» (Vertreibung), dokumentarisch ehrlich, poetisch reich und surreal überhöht. So nimmt der Film die wenig bekannte Seite des Syrien-Krieges und anderer Kriege zum Inhalt, in denen es immer wieder heisst: Fliehen oder bleiben?
Hala und Motaz im zerbombten Haus
Fliehen oder bleiben?
Bei Kerzenlicht hat Motaz einen Generator gebaut, der brummt und krächzt, der läuft! Zeina und Hala eilen herbei und bejubeln den «weltbesten Mechaniker», doch da steht die Maschine schon wieder still. Die drei gehören zu den wenigen Verbliebenen in ihrem belagerten Viertel von Damaskus. Der Blick aus dem Fenster zeigt zerstörte Häuserzeilen und Schutt. Nur selten huscht ein Mensch durch die Strassen. Ihre älteren Töchter sind mit den Familien längst auf dem Weg nach Europa. Soldaten fordern die Drei auf, die Stadt zu verlassen. Doch Motaz will weder als Familie noch als Volks jemals Flüchtling werden, auch wenn jedes Wasserholen zum gefährlichen Spiessrutenlauf wird. Zeina vertreibt sich die Zeit mit Tagträumen, kritzelt Zeichnungen ihre Bettpfosten und beobachtet die leeren Strassenschluchten. Sie wird langsam erwachsen und findet ihre Eltern anstrengend: Die Mutter, die sie über ihre Periode ausfragt, den Vater, der ihr vorschreibt, wie sie sich als Mädchen zu verhalten habe und sogar droht, sie mit einem Kämpfer an der Front zu verheiraten. Als die Soldaten näher rücken, steigt der Druck auf die Mutter, die unbedingt Zeina vor den Plänen der Männer bewahren will.
Als eine Rakete ein riesiges Loch ins Hausdach reisst, fleht Hala ihren Mann inständig an, das Land zu verlassen. Doch der will davon nichts wissen und lässt die paar Löcher in den Wänden mit bunten Laken verhängen. Während die Spannung zwischen den Eltern steigt, entdeckt Zeina eine neue Welt: Von ihrem Bett aus kann sie die Sterne sehen. Eines nachts wird ein Seil in ihr Zimmer hinuntergelassen, und sie wagt es, aufs Dach zu klettern, freundet sich heimlich mit dem gleichaltrigen Amer an, der hinter dem Angebot steckt, und erlebt eine bis anhin unbekannte Freiheit, die sich auch in ihre Vorstellungskraft einnistet und wirkt: Sie wirft ihre Fischerrute aus und angelt im Meer, lässt Steine übers Wasser hüpfen und träumt von der Zukunft, obwohl Damaskus nicht am Meer liegt. Dass alles um sie herum in Trümmern liegt, spielt in diesen Glücksmomenten keine Rolle. Eines Tages erzählt der Junge von einem geheimen Tunnel, der aus dem zerstörten Viertel hinausführen könnte, was für die Familie erneut heisst: Gehen oder bleiben? Leben oder Überleben?
Mit «Nezouh» ist der in Frankreich geborenen syrischen Autorin und Regisseurin Soudade Kaadan eine riskante, gelegentlich surreal absurde Gratwanderung gelungen zwischen Komödie und Tragödie, Politik und Poesie, Männer- und Frauenwelt – und sie lädt uns ein, den vier Protagonist:innen in ihre Lebenswelten zu folgen, Fragen zu stellen, Antworten zu suchen. Amer zweifelt nicht: «Der Himmel ist voller Sterne. Die Granaten können sie nicht zerstören.» Der Film umschreibt in globo das, was Zeina mit ihren hingekritzelten Zeichnungen meint, dass Fantasie und Hoffnung einmal über den Krieg siegen werden. Wie beiläufig wird dafür die Realität im Land immer wieder in Bildern hinterfragt und werden die Hintergründe ihres Lebens in Gesprächen ausgeleuchtet.
Die beiden Frauen auf der Flucht
Soudade Kaadan führt uns durch «Nezouh»
(mit ihren Antworten aus einem Interview, das integral im Anhang steht)
«Nezouh» ist kein typischer Film über syrische Geflüchtete. Wie sind Sie auf diesen einzigartigen metaphorischen Ansatz gekommen?
Zur Zeit, als ich mit dem Schreiben von «Nezouh» begann, herrschte eine bestimmte Erwartungshaltung, wie ein syrischer Film auszusehen hat: Er kam meist informativ daher und war eindimensional erzählt, um die Komplexität des syrischen Krieges einem westlichen Publikum vereinfacht zu erklären. Die meisten Filme über Syrien, die Flucht thematisieren, versuchten, uns entweder als Opfer oder als Helden darzustellen, und das in einer reinen Schwarz-Weiss-Manier. Natürlich sind auch wir wie alle Menschen weder nur das eine noch nur das andere. In all meinen Filmen wollte ich dem Publikum das Gefühl vermitteln, dass es mehr mit Geflüchteten gemeinsam hat, als es zunächst vielleicht denkt. Die Familie in «Nezouh» könnte jede Familie sein, die vor dem Dilemma steht, ob sie bleiben oder fliehen soll.
Mittlerweile glaube ich, dass eine Geschichte umso universeller wird, je tiefer sie in der lokalen Realität verankert ist. Symbole, Metaphern und ein märchenhafter Ansatz transzendieren die lokale Realität ins Universelle. Aus diesem Grund habe ich die Metapher eines Hauses in Damaskus gewählt, das den Veränderungen standhält. Durch die Bombardierung kann man, leider, zum ersten Mal durch offene Dächer und Fenster den Himmel und die Sterne sehen. Ich wollte zeigen, dass sich nicht nur die Gebäude in Damaskus verändern, sondern auch die Familiendynamik, seit die Frauen vermehrt das Zepter übernommen haben.
Was waren die grössten Herausforderungen beim Schreiben des Drehbuchs?
Für gewöhnlich schreibe ich als Autorin und Regisseurin auf der Grundlage eines Bildes, das ich sehe und das später zum Kern des Films wird. Bei «Nezouh» war es als Erstes das Bild eines Mädchens, das durch eine Öffnung in der Decke in die Sterne schaut. Die weiteren Figuren haben mich dann zu ihrer Geschichte hingeführt, die Herausforderung bestand schliesslich darin, persönliche Geschichten, fiktionale Handlung, Kriegsrealität und magischen Realismus im Film zu vereinen. Wie kann man den Krieg darstellen ohne die üblichen Action-Szenen von Bombardierungen, die man in Filmen mit ähnlichen Themen sieht? Wie kann man eine Gefahr spürbar machen, die immer näher rückt, ohne sie zu zeigen?
Da der Krieg in Syrien kein normaler Krieg ist und seit zehn Jahren anhält, haben die Menschen Wege gefunden und erfunden, der Kriegsrealität standzuhalten und zu überleben, indem sie ihr tägliches Leben so normal wie möglich gestalten.
Amer und Zeila auf dem Weg zum Fischen
Was wünschen Sie sich, dass das Publikum aus diesem Film mitnimmt?
Auf der einen Seite hoffe ich, das Publikum geniesst den Film auf zwei Ebenen: auf der filmischen und über die Geschichte, die er erzählt. Dann möchte ich, dass es wirklich darüber nachdenkt, wie schwierig es für diese Familie war, zu entscheiden, das Land zu verlassen. «Nezouh» erzählt die Geschichte einer Familie, die noch eine lange Reise vor sich hat.
Auf der anderen Seite des Mittelmeers werden Vertriebene einfach als Geflüchtete betrachtet. Die Menschen können nicht verstehen, wie schwierig es für sie war, die Entscheidung zu treffen, ihre Heimat zu verlassen. Niemand will alles zurücklassen, sein Zuhause, seine Erinnerungen, seine Identität, um ein Fremder zu werden, der mit Stereotypen belastet ist und ganz unten und neu anfangen muss. Das Publikum soll am Ende spüren, wie verrückt es aber auch ist, im Land zu bleiben.