Ruäch

Das Porträt einer verborgenen Kultur, geprägt von Freiheitsdrang und gezeichnet von alten Wunden. Ein magischer Trip durch das jenische Europa. Andreas Müller, Simon Guy Fässler und Marcel Bächtiger schufen mit «Ruäch» einen Dokumentarfilm über die Jenischen und eine Selbstbesinnung. Ab 31. August im Kino.
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Gemeinschaften der anderen Art

 

Eingeladen von einem geheimnisvollen Freund, begibt sich ein Filmteam auf eine Reise durch ein verborgenes jenisches Europa, das sich von staubigen Vororten Savoyens, den Tälern Graubündens bis in die Wälder Kärntens erstreckt. Erzählt von jungen und alten Stimmen, unterbrochen von Musik und Gesang, entfaltet sich ein kaleidoskopisches Panorama jenischen Lebens.

 

Kommentaren der Regisseure 

 

Wie macht man einen Film über Menschen, die lieber unsichtbar bleiben? Wie erzählt man von den Schicksalen einer Minderheit, wenn man selbst zur Mehrheitsgesellschaft gehört? Wie lässt sich eine uns unbekannte Lebensweise filmisch darstellen, ohne eine voyeuristische Perspektive einzunehmen? 

 

Unser Film wäre nicht denkbar ohne die ebenso grosszügige wie kritische Unterstützung eines jenischen Freundes. Er, der selbst im Schatten bleiben will, hat uns eingeladen auf eine Reise in ein jenisches Europa. Er hat uns Türen geöffnet, die uns sonst verschlossen geblieben wären, er hat uns an Orte geführt, die wir selbst nicht gefunden hätten, Kontakte vermittelt zu jenen Menschen, die sich mitten unter uns bewegen und doch ein ganz anderes, häufig verborgenes Leben führen. Vor allem wären wir selbst kaum auf die Idee gekommen, einen Film mit der jenischen Gemeinschaft zu drehen, wären wir nicht dazu ermutigt worden. 

 

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Mutter und Tochter

 

Trotz der Vermittlung unseres Freundes begegnete man uns anfangs mit Skepsis. Wer sind wir, was machen wir, welche Ziele verfolgen wir? Fragen, die wir selbst nicht immer zu beantworten wussten. Die Annäherung an die Jenischen, die gleichzeitig auch eine Klärung unseres eigenen Vorhabens war, brauchte Zeit. Es waren am Ende sieben Jahre, die wir im Kreis der Jenischen irgendwo in Europa verbrachten. Das Vertrauen wuchs, Freundschaften entstanden und an die Stelle von Vermutungen und Vorurteilen trat gemeinsames Erleben. Mit der Zeit begannen wir zu erahnen, warum die von uns porträtierten Menschen die Unsichtbarkeit am Rande der Gesellschaft bevorzugen. Eine Erkenntnis, die einen Schatten auf uns selbst und unseren Umgang mit Minderheiten wirft, die versuchen, einen eigenen Lebensentwurf zu bewahren. Und je länger, je klarer wurde uns, dass der Film eine unvollständige Geschichte erzählen würde, wenn wir selbst, unser Unwissen, unsere Vorurteile, unser eigenes Anderssein und unsere eigene Skepsis, nicht auch Teil des Films wären. 

 

Die Tage, Wochen und Jahre, die wir gemeinsam verbrachten, führten nicht nur zur immensen Menge von mehreren hundert Stunden gefilmten Materials, sondern liessen eine Nähe und Intimität, schliesslich auch eine Leichtigkeit und Unmittelbarkeit entstehen, die ohne die gegenseitige Vertrautheit nicht denkbar wäre. Aus der Fülle des Materials konnten wir so einen Film weben, in dem sich unsere Protagonistinnen und Protagonisten wiedererkennen, in dem sie ihre Geschichte erzählen und sich gehört fühlen. Ein Film, der aber nicht bloss ein Film über die Jenischen ist, sondern auch ein Film über uns, das Dokument einer Begegnung.

 

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Zum Fischen untertauchen

 

Einstieg als Fragende und Suchende

 

Oft geht es bei Dokumentarfilmen darum, Belege zu finden für das, was wir schon wissen. Bei «Ruäch» gehen die Filmemacher Andreas Müller, Simon Guy Fässler und Marcel Bächtiger, alle mit grossem praktischem und theoretischem Können, anders vor. Sie nähern sich den Menschen als Fragende, als Suchende, und warten auf deren Aussagen.

 

Ich hoffe, dass ich mit meinem Einstieg auf ähnliche Weise an die Menschen im Film herangehe wie sie. Mich inspiriert der brasilianische Pädagoge und Soziologe Paulo Freie, den ich seit Langem aus seinen Büchern kenne: angefangen mit der «problemformulierenden Methode», die er in seiner «Pädagogik des Fragens» begründet und als demokratische, antiautoritäre Methode beschrieben hat. Diese Haltung entspricht der prinzipiellen Ungewissheit, Unsicherheit und Unübersichtlichkeit der modernen Gesellschaften. Relevante Fragen ergeben sich nicht von selbst, ergiebiges Fragen ist eine Fähigkeit, die erlernt werden muss, ist keine «intellektuelle Spielerei». Eine solche Haltung des Fragens und Suchens nehme ich bei den drei Filmemachern von «Ruäch» wahr. Einfühlsam und klug werden wir von einer zur andern Person begleitet und verweilt der ganze Film in einer menschenfreundlichen Offenheit.

 

Unerwartet gibt es im Film einen Verweis auf das Gedicht «Bohémiens en Voyage» aus «Les Fleures du Mal» von Charles Baudelaire, das sich als wertvolle Anregung zum Weitersinnieren anbietet, die über den Film hinausführt. Anregend könnte sich auch der Vergleich mit zwei andern Filmen erweisen: «L'Îlot» von Tizian Büchi und «Jill» von Steven Michael Hayes.

 

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Tochter Lisbeth (vorne) und Mutter Irma

 

Die Protagonistinnen und Protagonisten

 

Nachdem Lisbeth Sablonier ein Leben lang «geschrottelt» hat, ist sie heute meistens auf dem Campingplatz von Andeer anzutreffen, noch immer im selben Wohnwagen, mit dem sie als Altmetallhändlerin durchs Land gereist ist, manchmal allein, manchmal mit einem Partner, häufig mit ihrer Mutter Irma. Auf der weiten Wiese des Campings steht ihr Wohnwagen gleich neben jenem von Irma: zwei Frauen, die unerschrocken ihrer Vorstellung von einem freien Leben folgen. Ihre enge Beziehung geht auf eine Vergangenheit zurück, die von ständiger Bedrohung geprägt war. Aufgewachsen ist Lisbeth in einem abgelegenen Haus im Albulatal. 

 

Hätte ihre Mutter nicht Tag und Nacht aufgepasst und sie beschützt, dann wäre auch sie ein Opfer des berüchtigten «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» geworden, das zahllose jenische Kinder, häufig unter falschem Namen, entführte und in Heimen oder Bauernfamilien platzierte. Wer Lisbeth heute beim Debattieren und Scherzen in ihrer Stammkneipe in Thusis oder beim Fischen an den Flüssen Graubündens erlebt, würde kaum vermuten, dass hinter ihrem rauen Humor ein dunkles Schicksal verborgen liegt: Bei einem Arztbesuch wurde Lisbeth ohne ihr Wissen sterilisiert und ihr Kinderwunsch zunichtegemacht. 

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Im langjährigen Streit mit der Verwaltung

 

Isabelle Gross bildet den Mittelpunkt eines jenischen Clans im französischen Annemasse. Sie ist «ein bisschen der Patriarch», wie sie selbst sagt, denn das blosse Hausfrauen- und Mutter-Dasein hat die herzhafte Isabelle nie interessiert. Stattdessen hält sie die Fäden und die Finanzen zusammen auf dem weitläufigen Terrain am Ufer der Arve, wo ihre Familie in einfachen Holzhütten oder Wohnwagen lebt, packt überall an, wo ihre Unterstützung gebraucht wird, so führt sie seit Jahrzehnten einen Kampf mit der Stadtverwaltung von Annemasse. 

 

Manuel Duda lebt mit seiner Frau Sylvana und den drei Kindern Marco, Joana und Leon in einem abgelegenen Tal in Kärnten. Er geht dem Beruf nach, den schon sein Vater ausgeübt hat: dem Messerschleifen. In einem kleinen Transporter reisen Manuel und seine Frau von Dorf zu Dorf und nehmen Scheren, Messer, Sägeblätter entgegen. Geld und Besitz bedeuten Duda wenig. «Ich arbeite nur so viel, dass ich über die Runden komme», sagt er. Was für ihn zählt, ist die Zeit, die er mit seinen Kindern verbringt, in den Wäldern und an den Bächen, beim Streunen, Schwimmen und am Feuer sitzen. Duda ist es wichtig, seinen Kindern das Wissen der Jenischen weiterzugeben: die geheimen Zeichen, die Sprache, die Handfertigkeiten.

 

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Auf der Fahrt in eine ungewisse Zukunft

 

Anhang 1: Wer sind die Jenischen?

Informationen, zusammengestellt und zitiert aus www.thata.ch, jenisch.info, einem Artikelausschnitt von Stefan Künzli «Jenische in der Schweiz», Brigitte Baur «Erzählen vor Gericht» und de.wikipedia. org/wiki/Jenische.

Anhang 2: «Bohémiens en Voyage» 

Gedicht aus «Les Fleurs du Mal», 1957, von Charles Baudelaire, 1821 – 1867

Regie: Andreas Müller, Simon Guy Fässler, Marcel Bächtiger, Produktion: 2023, Länge: 121 min, Verleih: Frenetic