Sieranevada

Eine Familie streitet sich: Christi Puiu hat mit dem Spielfilm «Sieranevada» ein Kammerspiel und gleichzeitig ein Sittengemälde geschaffen, in dem sich eine Familie zur Gedenkfeier des verstorbenen Familienoberhauptes trifft.
Sieranevada

Warten, bis es zu Essen gibt

Der grösste Teil des fast dreistündigen Spielfilms des Rumänen Christi Puiu handelt in einer Wohnung in Bukarest. Der Grund für das dortige Zusammentreffen von fünfzehn Menschen ist die Gedenkfeier für das verstorbene Familienoberhaupt Emil. Bevor der Arzt Lary, einer seiner Söhne, und seine Frau Laura dort eintreffen, streiten sie sich, wie sich Paare streiten – im «Prolog» sozusagen.

Drinnen wird dann bald diskutiert, gelacht, geweint, gestritten, geschmollt und intrigiert. Doch aus dem Small Talk werden Geschichten, die unter die Haut gehen. Sandra etwa streitet sich mit der alten Tante, noch immer eine Hardcore-Kommunistin. Währenddessen weint Tante Ofelia, weil sie an der Auseinandersetzung mit ihrem Mann leidet. Schwager Gabi und Neffe Sebi sprechen über Verschwörungstheorien. Bruder Relu stimmt nur zaghaft zu, weil er in der Armee dient. Nach einer Sitte aus Emils Heimat erhält einer seiner Nachkommen den Anzug des Toten. Weil der Priester, der das Gedächtnis leiten soll, sich verspätet, wird das Essen wieder eingepackt und wieder ausgepackt, nachdem er angekommen ist und die Zeremonie durchgeführt hat. Die Möblierung ist mit Ausnahme einer Nespresso-Maschine antiquiert. Frauen kümmern sich um Speis und Trank, Männer vertreiben sich die Zeit. Tragische und neurotische Momente, die am Bild ihrer Ehen kratzen. Hitzig wird es bei der Vergangenheitsbewältigung und der aktuellen Politik. In der Wohnung duftet es nach Essen, Krautwickel und Polenta.

Lary und Laura streiten erneut draussen – in einem «Epilog» sozusagen – um einen Parkplatz und versöhnen sich wieder, bevor sie in die Wohnung zurückkehren und endlich das Essen beginnt.

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Lary und Laura beim Streiten

Kammerspiel und Sittengemälde

Mit grandioser Kameraarbeit schuf Barbu Balasoiu mit den Versammelten ein verwirrendes und gleichzeitig faszinierendes Schauspiel. Wie die Wohnung, ist auch die Familie unübersichtlich. Man muss gut hinhören, damit sich die Beziehungen erschliessen. Doch bei Christi Puiu lohnt sich das! Seine Dialoge sind in ihrer Lebendigkeit und Genauigkeit kaum zu überbieten, seine Witze sarkastisch und liebend zugleich. Wie Voyeure dabei zu sein, ist ein heiteres Vergnügen, mit bitterem Nachgeschmack. Keine Einstellung ist zu viel oder zu lang. Wie Ebbe und Flut kommen und gehen die Konflikte, wechseln Dramatik mit Spässen, Momente der Innigkeit mit brutalen Entlarvungen in diesem raffiniert inszenierten Ensemblefilm, mit dem der Regisseur Abschied nimmt vom herkömmlichen Erzählen.

«Sieranevada», der vierte Film von Christi Puiu, präsentiert sich als typisches Beispiel der rumänischen Nouvelle Vague, von der in der Schweiz unter anderen «Police, Adjective» von Corneliu Porumboiu und «4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage» von Cristian Mungiu zu sehen waren und aktuell in den Kinos «Graduation» von Cristian Mungius anläuft und mit «Rumänien Reloaded» im Kino Xenix in Zürich vom 2. bis 29. März 13 Titel programmiert sind.

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Gespräch mit der Hardcore-Kommunistin

Ausschnitte aus einem Interview mit Cristi Puiu über «Sieranevada»

Was hat Sie auf die Gedenkfeier gebracht?

2007 ist mein Vater gestorben, während ich in Cannes war. Unverzüglich bin ich heimgekehrt. Die erste Gedenkfeier, die unmittelbar nach der Beerdigung stattfand, war reichlich bizarr. Es waren Leute da, die ich nicht kannte, Freunde meines Vaters, mit denen er gerne einen getrunken hat, und Nachbarn. Ich weiss noch, dass ich damals mit einer Kollegin über die Geschichte des Kommunismus gestritten habe.

Wie die Figur im Film, die sich nach dem Kommunismus zurücksehnt?

Ja. Jahre später sagte ich zu meinem Bruder: «Ich schreibe ein Drehbuch über die Gedenkfeier von Papa. Weisst du noch, wie wir uns über den Kommunismus gestritten haben?» Er aber, der an dieser hitzigen Debatte teilgenommen hatte, behauptete, sich an nichts zu erinnern. Ich erläuterte ihm meine Version des Geschehens, doch er bestand darauf: «Entschuldige, daran erinnere ich mich wirklich nicht mehr.» Das machte mich krank, wahnsinnig wütend und deprimiert. Man behält also die Dinge auf unterschiedliche Weise in Erinnerung, nimmt sie unterschiedlich wahr.

Für Ihre Figuren ist es wichtig, einer Gemeinschaft anzugehören?

Die Menschen leben wie die Bienen und Ameisen in Gemeinschaft. Wenn man dieser einen Teil entzieht, muss man alles neu ausrichten. Alles formiert sich neu. Jemand stirbt, und alles ändert sich für die kleine Gemeinschaft einer Familie.

Ist 9/11 nur ein Vorwand, um über Geschichte zu sprechen?

Ja, ich hätte auch den Zweiten Weltkrieg nehmen können. Ich wollte die Geschichte des Kommunismus neu interpretieren. Denn die Kommunisten haben die Geschichte gefälscht. Seither bin ich der Überzeugung, dass niemand an eine wie immer geartete Beständigkeit der Geschichte, noch an eine unerschütterliche Wahrheit glauben kann. Ich glaube, dass die Geschichte der Menschheit immer in Bewegung ist, und dass man das, was man für die Vergangenheit hält, ständig neu anpassen muss. Wir leben in totaler Konfusion. Ein Notausgang wäre vielleicht der Glaube. Doch bin ich weder katholisch noch orthodox.

Ihre Figuren tauschen sich nicht nur aus, sondern interessieren sich auch fürs Essen.

Ja, obwohl letztlich keiner wirklich zum Essen kommt. Das Mahl ist eine Ritualisierung der Dinge, es wird in allen Kulturen verstanden, da es in allen Kulturen stattfindet. Man versammelt sich bei Tisch. Es ist eine Tradition, die jedoch auch ein falsches Gefühl von Solidarität vermittelt.

Warum haben Sie den ganzen Film an einem einzigen Schauplatz angesiedelt?

Wir leben in einer Welt, deren Grenzen wir kennen. Das heisst, der Film konnte nur in einer Welt angesiedelt werden, die geografisch begrenzt ist. Deshalb ist der Raum geschlossen, alles spielt sich in der abgekapselten Welt einer Wohnung ab. Dieser Raum ist eine Spiegelung der Welt im Kleinen. Man kann dieser Wohnung ebenso wenig entkommen wie unserem Planeten. Man muss sich also damit abfinden, alle Zimmer betreten und auf den andern zugehen. Das Wichtigste ist die Begegnung mit dem andern.

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Der Pope, der auf sich warten lässt

In existenziellen Räumen

Türen gehen auf und zu. Menschen treten ein und gehen hinaus. Es gibt Begegnung und Trennungen. Die Handlungen und Episoden, die Erzählungen und Geschichten verschlingen sich kunstvoll und fordern Deutungen. Ob als Gläubige oder Ungläubige, alle streiten über ideologische oder zwischenmenschliche Wahrheiten, letztlich über den Sinn des Lebens.

Die religiöse Zeremonie in der Mitte des Films wird von einem Popen geleitet und unterscheidet sich nur wenig von jener bei christlichen Begräbnissen. Hallelujas und Gebete vertrösten aufs Jenseits, werden von den Anwesenden mit mehr oder weniger Anteilnahme erlebt und übertünchen die Orientierungslosigkeit und das Auseinanderdriften der Gesellschaft.

Alles spielt sich in den Räumen ab, wo Worte und Sätze verbinden und trennen. «Sieranevada» zielt auf keine eindeutige Aussage, sondern lädt ein zu persönlichen Antworten, die sich beim Sehen aus den Bildern immer wieder neu ergeben, jedoch alle ein Suchen nach Wahrheit verraten. Darin erinnert Cristi Puius Film an die lebenslange Sinnsuche seines grossen Vorbildes Luis Buñuel. Doch weiter kommen auch die Akteure in diesem Film nicht, als einst Dschaelal ed-din Rumi, der bekannt Sufimeister aus dem 13. Jahrhundert: «Die Wahrheit ist ein Spiegel, der vom Himmel gefallen ist, er ist in tausend Stücke zersplittert, jeder besitzt einen kleinen Splitter und glaubt, die ganze Wahrheit zu besitzen.» Dieses lange Gehen durch die existenziellen Räume einer rumänischen Familie, das an Sartres «Huit clos» erinnert, hat Christi Puiu genial in Szene gesetzt.

Regie: Cristi Puiu, Produktion: 2016, Länge: 173 min, Verleih: Xenixfilm