Kurze Einführung ins Strafjustizwesen der Schweiz. Für juristische Laien wie mich:
Die Anklage ist der Beginn eines Gerichtsverfahrens vor einem Strafgericht. Sie bezeichnet die beschuldigte Person, umschreibt die Taten, die dem Angeklagten vorgeworfen werden, und nennt die möglicherweise verletzte Strafvorschrift nach ihrem Wortlaut. – Der Strafverteidiger hat die Aufgabe, den Mandanten zu beraten und ihn durch das Verfahren zu «führen», er hat die Interessen des Mandanten zu wahren und dessen prozessuale Recht konsequent durchzusetzen. – Richterinnen und Richter fällen und begründen Urteile über eine Straftat und halten sie schriftlich fest.
Christian Labhart inszeniert in seinem Dokumentarfilm «Suspekt» ein von Julia Klebs moderiertes Gespräch mit Bernard Rambert. In dieser mit Archivmaterial unterlegten Konfrontation blickt Rambert auf seine bewegte Karriere zurück und reflektiert über Moral, Gerechtigkeit, Ideal und Realität. Der Filmemacher wurde 1953 in Zürich geboren, absolvierte das Gymnasium und eine Lehrerausbildung, bevor er als Primarlehrer im Industriequartier von Zürich tätig wurde. Ab 1980 arbeitete er als Bauer auf einem genossenschaftlich organisierten Hof in Dietikon, anschliessend war er Hausmann, bevor er 2000 als freier Filmemacher tätig wurde. In seinen Arbeiten setzt er sich mit gesellschaftlichen, historischen und musikalischen Themen auseinander. Davon wurden auf dieser Website besprochen: «Röbi geht» 2022, «Passion – Zwischen Revolte und Resignation» 2009 und «Zum Abschied Mozart».
Brian Keller, * 1995
Gedanken des Regisseurs: Der Verlust ursprünglicher Gewissheiten
Es war im Jahre 2019, als die Idee entstand, über Leben und Werk des linken Strafverteidigers Bernard Rambert, von den Mainstream-Medien als «Terroristenanwalt» bezeichnet, einen Dokumentarfilm zu drehen. Ich kannte ihn nicht persönlich, nahm ihn aber aus der Presse als unerschrockenen Anwalt wahr, der sich seit über 50 Jahren für Widerständige einsetzt. Das interessierte mich. Doch, wie soll ich eine Person mit polarisierenden Ideen filmisch darstellen? Bald wurde mir klar: Mein Film wird unausgewogen, parteiisch, eckig und provokativ werden.
Es kam die Frage auf: Soll auch Persönliches von Rambert Platz im Film finden? Im Laufe der Vorbereitungen entwickelte sich ein gangbarer Weg: Weder Homestory noch Hometrainer (beides ist glücklicherweise mit Rambert nicht zu realisieren), der Fokus liegt auf den historischen, politischen und juristischen Hintergründen seines Wirkens als Strafverteidiger (Isolationshaft, Repression, Menschenrechte, Gewalt, politische Rahmenbedingungen).
Der Film soll ein historisches Zeitdokument und eine aktivistische Intervention werden, die auch für jüngere Generationen interessant sind. Seine einseitige Erzählperspektive durchzuziehen ist insofern ein legitimer Entscheid, als sie die ungleichen Machtverhältnisse widerspiegelt, denen Bernard Rambert zeit seines Lebens Widerstand entgegensetzte.
Mit diesen inhaltlichen Prämissen und nach erfolgreicher Finanzierung (Zürcher Filmstiftung und SRF waren neben zahlreichen privaten Unterstützer:innen wichtige Koproduzenten) begannen im Frühjahr 2022 die Dreharbeiten.
Noch nie in meiner 24-jährigen Karriere als Filmemacher war ich bis zur Endfertigung von «Suspekt» mit so vielen Stimmen von aussen konfrontiert. Dies war wohl die Folge davon, dass Rambert bis heute eine öffentliche Figur ist – für die einen der unerschrockene, linke Anwalt, für die anderen ein «Terrorist im zweiten Glied», wie er es selbst im Film formuliert.
Meistens nahm ich die Rückmeldungen als willkommene Inputs wahr, manchmal aber auch als Versuche von aussen, den Film in seinen politischen Aussagen zu beeinflussen. Das war für mich eine spannende Herausforderung, manchmal zog ich mich allerdings auf die Position zurück: «Ich bin der Regisseur, ich entscheide.»
Mit Bernard Rambert fand ein konstruktiver Austausch statt. Vereinzelt machte er von seinem Recht Gebrauch, eigene Statements zu verwerfen. Von den 16 Stunden Gesprächen schafften es am Ende 40 Minuten in den Film – für uns beide ein intensiver, manchmal schmerzlicher Prozess des Loslassens!
Ein Zitat zur Gewalt, die den Film auf mehreren Schrifttafeln strukturieren sollten, wurden nach langen Überlegungen gestrichen, möchte ich an dieser Stelle trotzdem erwähnen. Die Worte stammen vom brasilianischen Erzbischof und Befreiungstheologen Don Hélder Câmara aus den 80er Jahren. Er beschreibt drei Formen der Gewalt. Die erste ist die Gewalt des Systems: Armut, Ungleichheit, Kapitalismus. Die zweite ist die Gewalt des Widerstandes, der diese Verhältnisse bekämpft. Die dritte ist die Repression, die diesen Widerstand niederzuschlagen versucht. Für Câmara ist es zynisch, nur die zweite Gewalt als Gewalt zu bezeichnen.
Aktivist:innen aus verschiedenen linken Gruppen wurden auf meinen Wunsch hin zu kritischen Betrachter:innen von filmischen Entwürfen. Eine häufige Rückmeldung war: «Wir wollen politische Analysen, keine persönlichen Befindlichkeiten oder gar Zweifel.» Diese Haltung kollidierte manchmal mit meinem Selbstverständnis als Regisseur, nicht nur Inhalte, sondern auch Emotionen oder sogar Brüche zu zeigen.
Ein Beispiel: Rambert wird im Film gefragt, wie die weltweit immensen Einkommensunterschiede beseitigt werden könnten. Seine Antwort: «Früher hätte ich gesagt Revolution, heute bin ich selbst ein Auslaufmodell.» Seine Bereitschaft, bisher selbstverständliche Gewissheiten ohne billige Distanzierung infrage zu stellen, war für mich wohltuend. Im Laufe der Arbeit an «Suspekt» wurde mir bewusst: Einfache Erklärungen politischer Abläufe, die keine Grautöne und Zweifel zulassen, sind zwar kognitiv angenehm, aber ein intellektueller Irrweg.
Gerade in der heutigen Situation der Welt (Corona, Ukraine, Gaza, Antisemitismus, Vormarsch des Faschismus) wurde es für mich während der Arbeit an «Suspekt» je länger, desto nötiger, einzelne Verunsicherungen als Linker offen zu kommunizieren und diese als Ausgangspunkt einer neuen Analyse zu nehmen.
Was bleibt zurück? Die Arbeit an «Suspekt» wurde für mich zu einer bereichernden Erfahrung und öffnete meine Sichtweise. Ein wichtiger Grund dafür ist Ramberts radikal humanistische, aber auch selbstkritische Denkweise, die sich in Thesen niederschlägt, die er unerschrocken und unabhängig von jeglichem Mainstream formuliert. Dafür bin ich ihm dankbar.
Walter Stürm, * 1942
Gedanken von Julia Klebs: Männlichkeit feministisch organisiert kritisieren, auch hinter den Kulissen!
«Suspekt» verspricht einen Einblick in die linke Schweizer Justizgeschichte, eine Auseinandersetzung mit den damit verbundenen kapitalismuskritischen, feministischen und antikolonialen Aspekten. Dies anhand der juristischen Tätigkeit eines Protagonisten, den ich als reflektiert und (selbst)kritisch wahrnehme gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen, seiner eigenen Geschichte und derjenigen seiner Klient:innen. «Suspekt» beinhaltet die Möglichkeit nachzufragen, was diese Justizgeschichte zu bieten hat, im günstigen Fall Stoff zu erarbeiten, den heutige emanzipatorische Bewegungen für bewahrens- und anknüpfenswert oder auch für abgrenzens- und kritikwürdig erachten. Ein Stück Erinnerung, das in Form eines Filmes öffentlich und damit kollektiv verhandelbar wird. Politische Transformation und Erinnerung hängen zusammen, letztere ermöglicht Kontinuität, das Lernen von anderen, aus ihren geglückten Kämpfen sowie aus ihren Enttäuschungen und Fehlern.
«Suspekt» war während der ersten Dreharbeiten ein Ort, an dem sich zeigte, wie wir alle zuweilen in Beziehungsgeflechten existieren, die nicht mit unseren politischen Überzeugungen und Idealvorstellungen übereinstimmen. Die Rede ist von Geschlechterverhältnissen, die auch in einem Umfeld, in dem Frauen:streiks begrüsst werden, das Potential für Konflikte bergen: Ausschlüsse weiblicher Perspektiven durch männliche Entscheidungsträger, geschlechtertypische Arrangements im Zusammenhang mit der Aufgabenverteilung am Set, sexistisch geprägte Interaktionen.
«Suspekt» wurde während der Dreharbeiten zu einem Ort, an dem solche Konflikte verhandelbar wurden. Wesentlich dazu beigetragen hat der Beizug einer Fachperson für geschlechterreflektierte Begleitung, die während der Drehtage anwesend war und ihre Beobachtungen am Ende jedes Drehtages teilte. Dabei zeigte sich eine wohlbekannte Julia Klebs Unterscheidung. Die anwesenden Frauen erlebten Reflexion, damit verbundene Besprechung und erhöhte Aufmerksamkeit für Geschlechterinteraktionen als positiv. Einige männliche Teilnehmer sprachen dagegen von Zensur oder Schere im Kopf, wobei sie diese Wahrnehmung durchaus selbstkritisch äusserten. Die Infragestellung von hegemonial männlichen Verhaltensweisen wurde teils als irritierend und einschränkend empfunden. Es ist dies eine Wahrheit, die Kämpfen um Gleichwertigkeit und Emanzipation zugrunde liegt: Veränderungsanstösse kommen von denjenigen, die negativ vom Status quo betroffen sind, und eine Veränderung desselben ist nicht ohne Konflikte, Widerstände und Widersprüche zu haben. Und ja, für viele Männer bedeuten Veränderungen im Geschlechterverhältnis Unannehmlichkeiten und Einschränkungen.
Während der Drehtage hinterfragten einige Männer das eigene Verhalten und veränderten es. Aus weiblicher Sicht boten die Drehtage eine Gelegenheit, sich im Umgang mit der immer wieder aufflackernden Wut über die nach wie vor kulturell und strukturell eingeschriebene Geringschätzung von Weiblichkeit zu üben und Kritik so zu adressieren, dass sie annehmbar wird.
Insgesamt halte ich die Konfliktbearbeitung während «Suspekt» für gelungen. Damit verbunden ist einmal mehr die Erkenntnis, dass Veränderungspotential sowie Freiheits- und Emanzipationsräume manchmal grösser sind, als uns bewusst ist.
Polemik gegen Bernard Rambert
Gedanken von Bernard Rambert
Staatsanwaltschaft und Gerichte bringen die «Wahrheit» ans Tageslicht und führen Schuldige der «verdienten» Strafe zu, womit letztlich «Gerechtigkeit» geschaffen wird, so der allgemeine Tenor. Strafverteidiger:innen hingegen sind die Verhinderer. Sie widersetzen sich der «Wahrheitsfindung» und damit der Verurteilung eines Täters, was ihnen in der öffentlichen Wahrnehmung den Ruf einbringt, Komplizen der Täter:innen zu sein.
Rolle und Funktion der Strafverteidigung sind für mich naturgemäss ein wichtiges Thema, das im Film Eingang gefunden hat. Strafverfahren haben mit «Wahrheit» wenig am Hut, mit «Gerechtigkeit» noch weniger, wie schon Friedrich Dürrenmatt in seinem Roman «Justiz» meinte: «Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat».
Es hat mich gereizt, im Film von Christian Labhart mitzumachen und über die Rolle meines Berufes zu diskutieren. Natürlich widerspiegeln sich in meinem Berufsverständnis auch meine politischen Überzeugungen. Recht ist Macht und Gewalt. Recht, Gesetze und Verfassung sind das Produkt von Interessenkämpfen. Sind diese aber erst einmal in Gesetz und Recht gegossen, verschwinden sie aus unserem Blickfeld. Die Verrechtlichung und Vergerichtlichung von Interessengegensätzen vernebeln unseren Blick und lassen uns glauben, Recht sei neutral und beruhe auf einem entpolitisierten Konsens. Diese Überzeugung hat mich naturgemäss in meinem Berufsalltag begleitet und ist im Film auch ein Thema.
«Suspekt» soll weiter einen Einblick geben in die linke Schweizer Justizgeschichte. Damit meine ich die verschiedenen Prozesse, die in den letzten 50 Jahren in der Schweiz gegen Menschen geführt wurden, welche mittels Gewalt eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse erreichen wollten. So wollen wir auch einen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten. Ob «Suspekt» all diese Ansprüche erfüllt, wird das Publikum entscheiden.
Nils Melzer * 1979
Eine Rückmeldung von Nils Melzer, dem ehemaligen UNO-Sonderberichterstatter für Folter, der Brian verteidigt hat und ihm an den Solothurner Filmtagen 2025 zum ersten Mal begegnet ist:
Gratuliere zu einem gelungenen, herausfordernden und doch immer auch sehr feinfühligen Film – ein wichtiger Beitrag zum Erhalt von Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft.
Regie: Christian Labhart, Produktion: 2024, Länge: 82 min, Verleih: Cineworx
Titelbild: Bernard Rambert, *1946