The County
Arndís Hrönn Egilsdóttir als Inga
Vor der malerischen Kulisse Islands beweist der Spielfilm «The County», dass es manchmal nur eine einzige Person, hier eine Frau, braucht, um menschliche und politische Veränderungen zu erwirken. Nach seinem internationalen Erfolg mit «Rams» hat Regisseur Grímur Hákonarson in seinem neuen Film mit Inga, grossartig verkörpert von Isländerin Arndís Hrönn Egilsdóttir, eine starke weibliche Hauptfigur gefunden, die anfänglich im Alleingang den Kampf gegen überholte Traditionen einer korrupten landwirtschaftlichen Kooperative in ihrem Bezirk aufnimmt und schliesslich, mit andern zusammen, demokratisches Bewusstsein einführt und eine politische Veränderung erreicht. Im ersten Film ging es um das Zusammenleben in der Familie, im zweiten um das Zusammenleben im Dorf, im Tal, in der «Grafschaft», was der Titel andeutet.
Eines Tages ist Inga allein
Wie Inga Demokratie einführt und zu sich selber findet
Inga betreibt mit ihrem Mann Reynir einen Milchwirtschaftsbetrieb, der Teil einer Kooperative ist. Nach dem plötzlichen Tod Reynirs beginnt sich Inga gegen die missbräuchliche Monopolpraxis der Kooperative zu wehren. Trifft sie mit ihrem unerschrockenen Kampf anfänglich noch auf Widerstand, gewinnt sie allmählich die Unterstützung der restlichen Talbewohner und findet schliesslich neue Perspektiven für Gemeinschaft und sich selbst. Grímur Hákonarson schildert erneut mit kargen Bildern das Leben in den beeindruckenden grünen und steinigen Weiten Islands, das sich ganz um Hof und Vieh dreht. Authentisch und mit trockenem Humor erzählt er von der nordländischen Kultur, von Sturheit und Wortkargheit, aber auch von Bauernschläue und Gemeinschaftssinn. Die Hauptfigur, die taffe Inga, die sich in Arbeitsoverall und Gummistiefeln nichts bieten lässt, wenn sie sich gegen Vetternwirtschaft, Traditionalismus, Korruption und die Männerherrschaft auflehnt. Diese grossartige Frau hat Potenzial zur Kultfigur!
Und «The County» ist ein grossartiger Film, in dem stimmt, was stimmen muss! Ein Film, der uns mit seiner Geschichte mitnimmt in die weiten Landschaften Islands und in das Denken und Fühlen interessanter Menschen, unterstützt von Melodien und Geräuschen, geleitet von einer Montage, die führt, doch nicht verführt, Szene um Szene, von Höhepunkt zu Höhepunkt, mit feinen und zugleich starken Aussagen dieser tragischen und dennoch glücklichen Geschichte. Wer sich mitnehmen lässt von diesem Flow, versteht und erfährt, dass «The County» zwar isländische Verhältnisse beschreibt, doch im Kern allgemeingültig ist. Die Schlusssequenz, in der Inga im Auto singend in die Zukunft fährt, erinnert an den Schluss des chilenischen Films «Gloria» von Sebastián Lelio und schliesst so mit einem weiteren Hinweis, Island mit Chile verbindend: In beiden Werken geht es um eine reife Frau, die zu sich findet und glücklich ist, nachdem sie ein Werk vollendet hat.
Inga wirbt für ihre Idee
Aus einem Interview mit Grímur Hákonarson
Wie in «Rams» zeigen Sie auch in Ihrem neuen Film Menschen, die in einer abgelegenen Gegend wohnen, deren Leben sich um ihren Hof und ihre Tiere dreht. Doch diesmal ist das Spektrum ein viel grösseres. In «Rams» konzentrierten wir uns auf zwei verfeindete Brüder, die auf benachbarten Bauernhöfen leben und versuchen, ihre Schafherden zu retten. Es handelte sich um eine Familiengeschichte, in «The County» geht es mehr um die Gesellschaft als Ganzes. Aus dem Blickwinkel der Heldin beschreiben wir die politische Wirklichkeit einer ganz bestimmten Region. Inga hat gerade ihren Mann verloren, und während sie alle Stufen der Trauer durchläuft, beschliesst sie gleichzeitig, gegen eine korrupte Führungselite zu kämpfen, die sie und ihre Gemeinschaft ausnutzt. Im Nordwesten von Island liegt eine Gegend, die Skahafjörour heisst. Dort operiert die einzige noch übrig gebliebene Kooperative unseres Landes. Sie entsprang einer Bewegung, die im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm; doch bis auf diese eine sind alle anderen Genossenschaften in den 1990er Jahre pleite gegangen. Nur diese hat irgendwie überlebt. Ihr gehört praktisch alles – sogar die örtliche Zeitung. Das erinnert ein wenig an hermetisch abgeriegelte Staaten wie etwa die ehemalige Sowjetunion, deren Kraken wie bei einem gigantischen Tintenfisch alles im Griff haben. Dennoch glaube ich, dass mein Film ganz allgemein von der isländischen Gesellschaft handelt. Wir sind klein, deshalb neigen wir zu einem monopolistischen Denken. Es gibt ein paar Leute, die die Kontrolle haben, und der Rest wird ausgebeutet.
Selbst ist die Frau ...
Inga wirkt auf den ersten Blick nicht wie eine typische Aktivistin. Deshalb überrascht ihre Rebellion umso mehr. Ja, Inga ist eine ganz normale Isländerin vom Land. Sie hat nichts vom Klischee der starken Frau, die jedem erzählt: «Ich bin eine Rebellin!» Sie ist ein sehr ruhiger Mensch. Die isländische Landwirtschaft ist bis heute sehr männlich geprägt. Doch in jüngerer Zeit treten Frauen immer stärker in den Vordergrund, es gibt sogar einige, die ihren eigenen Hof bewirtschaften. Viele Männer haben damit ein Problem, immer noch. Zum einen hat mich dieser Konflikt interessiert – aber zu meinem Film wurde ich auch durch die Diskussion in der Unterhaltungsindustrie und die Frage, welchen Platz Frauen im zeitgenössischen Film einnehmen, inspiriert.
In der Gemeindeversammlung
Die Leute von der Genossenschaft sprechen über ihre Gegend, als handelte es sich um ein geheimnisvolles Land, als wäre es mehr ein philosophisches Konzept als ein tatsächlicher Ort. Ist diese Einstellung, dass die Bedürfnisse des Einzelnen hinter denen der Gemeinschaft zurückstehen müssen, immer noch weit verbreitet? Im Nordwesten von Island ist das tatsächlich so. Wenn man die Menschen dort reden hört, entsteht der Eindruck, als wäre die Gegend total autonom und bräuchte keine Hilfe von aussen. Diese Leute sind auch gegen die Europäische Union, sie wollen, dass Island unabhängig bleibt und sperren sich gegen die Zusammenarbeit mit «bösen» ausländischen Institutionen. Im Film fürchten sie sich vor den grossen Handelsketten in Reykjavik. Dabei handelt es sich um die gleiche Ideologie; nur die Tatsache, dass sich alles um die Kooperative und den gemeinsamen Besitz dreht, obwohl die Einrichtung längst nicht mehr nach demokratischen Prinzipien funktioniert, ist ziemlich einzigartig. Hier hatten sie zumindest früher noch gewisse Ideale. Deshalb würde ich sagen, ja, das Land, um das es geht, ist mehr ein philosophisches Konzept als etwas anderes. Aber was man damit anfangen soll, weiss schon lange niemand mehr.