The Wild Pear Tree

Unangepasst in einer angepassten Gesellschaft: Nach «Winter Sleep» versucht der Türke Nuri Bilge Ceylan mit seinem Spielfilm «The Wild Pear Tree» weiter vorzudringen in den Sinn der Literatur und die Poesie des literarischen Kinos. Ab 21. 1. im Kino
The Wild Pear Tree

Der Protagonist Sinan Karasu, verspielt von Aydin Doğu Demirkol

Nach Abschluss seines Studiums in Çanakkale kehrt der junge Sinan Karasu zurück in die heimatliche anatolische Provinz, entschlossen, hier seinen ersten Roman zu veröffentlichen. Dessen Finanzierung erweist sich jedoch als kompliziert, da die Schulden seines Vaters ihn einholen. «The Wild Pear Tree», der Titel des neunten Films von Nuri Bilge Ceylan, steht auch für den Titel seines Romans, den er im Film verfasst. Gewissenmassen begleiten wir das Entstehen eines Buches, ohne uns dessen bewusst zu sein. Es wird im Film auch nicht geschrieben, sondern entsteht mit dem, was sich gerade abspielt. Man könnte sagen: Wir schauen beim Literaturwerden eines Werkes zu.

Voraussichtlich wird Sinan vorerst als Lehrer arbeiten und befürchtet, im Osten, dem armen und gefährlichen Kurden-Gebiet, eingesetzt zu werden. In der Schule wie in der Kultur hat man es heute in der Türkei nicht einfach. Während die Medien zwischen «Colombo» und «La La Land» pendeln, ist im realen Leben freies Denken nicht erwünscht, schädlicher als Rauchen. Fragen stellen oder sich über Traditionen lustig machen, sind Handlungen, die Autokraten nicht dulden. Doch Ceylan ist kein Filmemacher, der sich über die Oberfläche der Politik auslässt. Seine Filme sind existenziell – gerade deswegen jedoch hochpolitisch.

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Sinan begegnet seiner früheren Freundin

Menschen in einer Gesellschaft, die stillsteht

Wie in «Winter Sleep», seinem letzten Film, und seinen Filmen davor, visualisiert Nuri Bilge Ceylan auch in «The Wild Pear Tree» bestechend, stark dialogisierend (was beim Untertitel-Lesen ermüden kann) und erhebt sich vor allem gegen Schluss zu literarischer und filmischer Grösse. Die Bilder geben der Sprache Raum, und im Ton wirkt selbst das Schweigen. Einem Ceylan-Film sollte man offen begegnen, bis man sich nach mehr als drei Stunden wünscht, dass das Schauen und Lauschen noch lange dauern möge. Er schafft es, uns nicht merken zu lassen, dass er wortreich erzählen lässt, während seine Kamera mal diese, mal jene Szene diskret betrachtet.

«The Wild Pear Tree» umfasst eine Reihe von Begegnungen, die manchmal mehr, manchmal weniger direkt mit Sinans Ambition verknüpft sind, sein Buch publizieren zu können: Mit dem Bürgermeister zunächst, einem als Mäzen bekannten Unternehmer und einem lokalen Schriftsteller danach, dazwischen begegnet er zwei jungen Imamen und schliesslich der ehemaligen Freundin Hatice, in der eindrücklichen Szene, in der sie sich vom Kopftuch befreit und die Haare vom Wind streicheln lässt. Im Hintergrund beunruhigt ihn das bevorstehende Examen, mit dem er erst sein Lehrerpatent erlangt. Von diesen Befürchtungen und dem tristen Umfeld bedrückt, fragt es sich: Wird er es schaffen, seinen eigenen Weg einzuschlagen und dem zu entgehen, was er seit seiner Rückkehr als grosses Loch in seinem Leben empfindet? Oder ist er dazu verdammt, den enttäuschenden väterlichen Lebensweg zu wiederholen? Die Beziehung mit seinem Vater Idris ist eine der eindrücklichsten, weil komplexesten und widersprüchlichsten Vater-Sohn-Geschichten des neueren Kinos. Ergänzt wird sie durch die berührende Mutter-Sohn-Geschichte mit Asuman – wohl inspiriert von Ebru Ceylan, Nuri Bilges Frau, die am Drehbuch mitgearbeitet hat. Immer wieder ist es die Melancholie, welche im berühmten Satz der Passacaglia und Fuge in C-Moll von Johann Sebastian Bach erklingt (BWV 582), die den Kinoraum füllt. «The Wild Pear Tree» lädt ein, über unsere Existenz, unsere Träume und Enttäuschungen zu meditieren; denn über den türkischen Kontext hinaus wirkt der Film auf magische Art universell.

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Sinan mit Kollegen beim Disputieren

Nuri Bilge Ceylan zu seinem Film «The Wild Pear Tree»

«Wollen wir mit andern menschlichen Wesen in Kontakt kommen, so müssen wir ihre geschützte Höhle aufsuchen und dabei ein gewisses Mass an Risiko auf uns nehmen. Geht einer zu weit und versucht zu viel, kann er unterwegs die eigene Orientierung, die eigene Identität verlieren. Hat aber jemand zu viel Angst davor, sich hinauszuwagen, so wird er sich weigern, selber auf die Suche zu gehen. Er schränkt sich ein und zieht sich zurück, gibt im gleichen Zug die Chance zum Wachsen und zur eigenen Entwicklung auf. Ein solcher Mensch wird schwierige Zeiten durchleben, es wird ihm schwerfallen, die Widersprüche des Lebens zu erfassen und zu verstehen, während es ihm gleichzeitig konstant und unausweichlich fremder wird. Er wird anfangen, zu zögern zwischen der Unzulänglichkeit, die Widersprüche kreativ zu nutzen, und der Unmöglichkeit, diese zu verleugnen. Wie sagt man doch: "Was ein Vater verbirgt, offenbart sich in seinem Sohn." Man kann machen, was man will, aber man wird gewisse Züge des eigenen Vaters erben: Schwächen, Gewohnheiten, Ticks und anderes mehr. Der Film erzählt die Geschichte eines Jungen, der unweigerlich ins selbe Schicksal hineingezogen wird wie sein Vater, in einer Handlung, die mit schmerzhaften Erfahrungen gespickt ist.»

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Sinan ausserhalb der modernen Provinzstadt

Ein Meister des türkischen Kinos

Nuri Bilge Ceylan wurde 1959 in Istanbul geboren. Nachdem er eine Ausbildung zum Elektroingenieur abgeschlossen und eine Reise zum Himalaya unternommen hatte, entschloss er sich, eine Militärlaufbahn einzuschlagen. Anderthalb Jahre diente er in einem Armeekorps in Anatolien und vertrieb sich die Zeit mit Lesen, so auch der Biografie von Polanski, die ihn motivierte, Filmemacher zu werden. Sein Filmstudium begann er an der Universität Istanbul und setzte es in London fort. Heute ist er Regisseur, Schauspieler und in den meisten seiner Filme auch Cutter, lange Zeit führte er sogar selber die Kamera.

Fotografie war immer seine Passion. Sein Debüt als Regisseur feierte Ceylan 1995 mit dem Kurzfilm «Cocoon», der nach Cannes eingeladen wurde. Sein erster Langspielfilm, «The Town», wurde 1998 in Berlin, Tokyo und Istanbul preisgekrönt. Auch sein dritter Film, ein stark autobiografisches Werk, dessen Hauptrollen unter anderem seine Eltern spielten, erhielt zahlreiche Auszeichnungen.

Den endgültigen Durchbruch schaffte er 2002 mit «Uzak» (Distant), für den er in Cannes den Grand Prix du Jury erhielt. Zu dieser sehr persönlichen Arbeit gesellte sich 2006 «Climates». 2008 gewann er in Cannes die Auszeichnung für die beste Regie mit «Three Monkeys». 2011 würdigte ihn die Jury an der Croisette für «Once Upon a Time in Anatolia» mit dem Grand Prix. 2014 vergab die Jury die goldene Palme an seinen Film «Winter Sleep», die Ceylan der türkischen Jugend und den (politischen und wirtschaftlichen) Opfern in seiner Heimat widmete. Jugend und den (politischen und wirtschaftlichen) Opfern in seiner Heimat widmete.


Regie: Nuri Bilge Ceylan, Produktion: 2018, Länge: 188 min, Verleih: trigon-film