Wajib

Israel-Palästina: eine Innenansicht: Am Beispiel einer Vater-Sohn-Beziehung schildert Annemarie Jacir im Spielfilm «Wajib» eine Israel-Palästina-Beziehung, unpolemisch und mit Empathie. – Kinostart 8. März
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Abu Shadi und Shadi beim Verteilen der Einladungen (v. l.)

Der in Rom lebende Architekt Shadi ist zu Besuch in seiner Heimatstadt, wo er seinem Vater Abu Shadi helfen soll, die Einladungen zur Hochzeit seiner Schwester Amal den Gästen persönlich zu überbringen, wie dies in Palästina üblich ist. Mit ihnen erleben wir, unterhaltsam und nachdenklich, die Tücken einer Vater-Sohn-Beziehung und tauchen gleichzeitig ein ins Leben von Nazareth, einer Stadt im Norden Israels. Die Regisseurin Annemarie Jacir begibt sich mit ihrem Film «Wajib» auf eine ernsthafte und humorvolle Fahrt durch ein Stück Israel-Palästina.

Hintergrund: Nazareth ist die Stadt mit der grössten Gemeinschaft arabischer Israeli mit muslimischen und christlichen Wurzeln. Diese wohnen vorwiegend im alten Teil der Stadt mit dem arabischen Markt. In Nazrat-Illit, dem neuen Teil der Stadt, leben mehrheitlich Menschen jüdischen Glaubens. Für alle 74'000 Einwohner sind die Lebensbedingungen prekär, doch die Araber erleben sich als Bürger zweiter Klasse, «die Unsichtbaren», wie man sie nennt.

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Zwei Palästinenser in Israel

Rituale, die Befindlichkeiten verraten

Wie in allen andern arabischen Ländern herrscht auch in Palästina die Tradition der «Wajib» (Verpflichtung). Der Vater der Braut schickt sich an, zusammen mit seinem Sohn in der Stadt herumzufahren und Bekannte und Verwandte zu besuchen. Die Filmemacherin Annemarie Jacir hat daraus eine Art städtisches Roadmovie gemacht, das beim Morgengrauen beginnt und in der Abenddämmerung endet. Die beiden händigen die Hochzeitseinladungen an Muslime, Christen und Atheisten aus; wenn es um Juden geht, gibt es Streit. So bei Ronnie Avi, der als «Inspektor des Wissens» auch die Schule kontrolliert, in welcher der Vater als Lehrer arbeitet und hofft, bald Rektor zu werden.

Im Laufe der Fahrt durch Nazareth erleben wir, wie in einem Kammerspiel, die angespannte Beziehung zwischen den beiden. Der Sohn kann nicht akzeptieren, dass der Vater Konzessionen macht, der Vater, dass der Sohn nicht in der Heimat auf Brautschau geht. So lotet der Film die Vater-Sohn-Beziehungen aus, legt die Unterschiede offen und vereint alles zum bunten Bild einer Israel-Palästina-Beziehung: mit kleinen Sticheleien, doppeldeutigen Bemerkungen und Schummeleien. Oft werden die Probleme bloss im Hintergrund, in Nebensätzen oder Seitenblicken erkennbar.

 

Solches in einem Film zu zeigen, scheint mir gerade heute wichtig, wo Israel-Palästina allmählich von den Agenden der Weltpolitik verschwindet. Annemarie Jacir beschreibt das Leben kenntnisreich und mit Sympathie: «Die Menschen müssen unaufhörlich für ihre Rechte und um die beschränkten Ressourcen kämpfen, aber sie sind eine bewundernswerte Spezies Mensch, voller Humor und Leben. Für mich ist Nazareth die Stadt der Überlebenden.»

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Auch der Grossvater erhält eine Einladung

Annemarie Jacir, die Regisseurin von «Wajib»

Annemarie Jacir wurde 1975 in Bethlehem geboren, ist Palästinenserin und verlebte ihre Jugend in Saudi-Arabien. Ihre Ausbildung absolvierte sie in den Vereinigten Staaten, seit 1994 arbeitet sie als freie Filmschaffende, hat Philistine Films für Produktionen aus der arabischen Welt mitbegründet. Sie hat mehrere Kurzfilme gedreht, die prämiert wurden. In der Schweiz waren von ihr die beiden letzten Spielfilme in den Kinos zu sehen: «Salt of this Sea» (https://der-andere-film.ch/filme/filme/titel/pqrs/salt-of-this-sea) und «When I Saw You», die in Jordanien entstanden sind, wo Jacir lebte, weil ihr damals die Rückkehr nach Palästina verwehrt wurde. Inzwischen hat sie sich wieder in ihrer Heimat niedergelassen. Ihre Gedichte und Kurzgeschichten wurden in Literaturzeitschriften publiziert und ihre Filme an Festivals gezeigt. 2016 erschien ihr dritter Spielfilm, «Wajib», der an Filmfestival von Locarno Publikum und Kritik gefiel und mehrfach ausgezeichnet wurde.

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Amal beim Anprobieren des Hochzeitskleides

Differenzen bei der palästinensisch-israelischen Koexistenz

«Wajib», diese gelungene Mischung aus Kammerspiel und Roadmovie, ist ein Spielfilm, in dem Annemarie Jacir sich offensichtlich zurücknimmt und dennoch deutlich macht, was ihr und den Palästinenserinnen und Palästinensern das Leben erschwert in diesem offiziell «bestens funktionierenden Zusammenleben von Palästinensern und Juden in Israel». Der Film nähert sich so einem Grundproblem der Menschen vor Ort: Im Land bleiben, Kompromisse eingehen, resignieren oder auswandern, im Ausland neu anfangen, seine Heimat verlieren? Er erzählt unterhaltsam und aufschlussreich vom Alltag, wie er sich abspielt, verkörpert vom überzeugenden Darstellerpaar Saleh und Mohammad Bakri, auch im realen Leben Vater und Sohn, und flankiert vom authentischen Spiel der Nebenfiguren, diskret angedeutet über Mimik und Gestik, Architektur und Dekor sowie einigen Klängen. «Wajib» ist ein Film, der bescheiden daherkommt, sich langsam entfaltet und schliesslich das schildert, was die Palästinenserinnen und Palästinenser bewegt. Annemarie Jacir zeigt – und das ist ihr Verdienst – das bei uns wenig bekannte Israel-Palästina, so wie sie es erlebt.


Regie: Annemarie Jacir, Produktion: 2017, Länge: 96 min, Verleih: trigon-film