1976
Carmen, von Überwachern verfolgt
Die 50-jährige Hausfrau Carmen stammt aus einer bürgerlichen Familie, ihr Mann ist Chefarzt, sie haben drei Kinder. Im Winter 1976, drei Jahre nachdem Augusto Pinochet sich zum Staatschef Chiles geputscht hat, fährt sie in ihr Ferienhaus am Meer, um die Renovation zu überwachen. Da sie über medizinische Kenntnisse verfügt, wird sie von Padre Sánchez, dem Priester der kleinen Küstenstadt, gebeten, ihm bei der Pflege eines jungen Mannes zu helfen, der dem Widerstand gegen den Diktator angehört, von einer Kugel verwundet wurde und bei ihm Zuflucht gefunden hat.
Wie wir in den Film einführt werden
Bereits in den ersten Minuten nimmt uns Manuela Martelli, die 1983 geboren Schauspielerin und Regisseurin mit grossem cineastischem Können, in ihren ersten Langspielfilm «1976» mit. Zwei Sequenzen genügen, um in die Komplexität des Films einzusteigen. Während Carmen für die Wände ihres Ferienhauses anhand von Farbbildern eines Venedig-Führers mit einem Maler zusammen im Atelier ein nobles Rosa auswählt, hört sie von draussen Schreie: Die mit der roten Jacke! Lasst mich los! Lasst sie los! Sie entführen mich! Halt die Klappe! Eine Tür schlägt zu. Ein Automotor heult auf und fährt weg. Etwas der sorgfältig gemischten Farbe tropft auf ihren Schuh. Aus der Ferne ein Schuss. Carmen: Was ist da los? Was war das bloss? Die Mitarbeiter: Das ist draussen. Die Jungen lassen nicht locker. Sie müssten es eigentlich begriffen haben. Schon das dritte Mal, dass hier so etwas vorkommt. Die Storen werden geschlossen. Maler: Señora Carmen, sehen sie, jetzt stimmt die Farbe. Zusammen bringen sie die Farbe zum Auto. Carmen, mit ihrem Schuh, auf dem ein paar Farbtropfen wie Blutstropfen liegen, entdeckt unter ihrem Auto, sich in der Autoscheibe spiegelnd, einen Frauenschuh. Filmtitel «1976».
Abfahrt ans Meer. Auf der zweiten Ebene des Films hören wir, ohne die Farbmischmaschine zu sehen, ein ratterndes Geräusch. Die Schreie der Entführung führen hinüber zu den Glockenklängen des Titels. Beim Fahren ertönt hämmernde, vibrierende, alarmierende, mit Vogelzwitschern und Motorenlärm vermischte Synthesizermusik. «Ich bin gespannt, wie lange das so weitergeht», meint Carmen beim Fahren und verlangt von ihrer Bediensteten Pillen und Zigaretten. Ankunft beim Haus. Ausladen, Einräumen. Nacht. Carmen liegt wach im Bett, nimmt Pillen und raucht. Am Morgen früh tritt Pater Miguel ins Zimmer. Sie habe eine schreckliche Nacht gehabt, meint sie und gibt ihm Kleider und Kinderschuhe.
Ein Filmanfang, der einlädt, genau hinzuschauen, hinzuhören, mitzudenken – und die unterschwellige Stimmung wahrzunehmen, die sich aufbaut und uns mitnimmt in den Melodrama-Psychodrama-Thriller, der bei Carmen In-sich-Gehen, eine allgemeingültige Metanoia bewirkt.
Vordergründige Familienidylle
Anmerkungen der Regisseurin
Woher stammt die Idee zu Carmens Figur? Als Teenager begann ich, mir über meine Grossmutter mütterlicherseits, die ich nie kennengelernt habe, Gedanken zu machen. Sie war von einem geheimnisvollen Nimbus umgeben, den ich nicht recht zu deuten wusste. Zu Hause hatten wir ein paar von ihr gefertigte Gegenstände: einige Keramiken, Gemälde oder Zeichnungen und eine Frauenskulptur, die im Wohnzimmer stand. Abgesehen davon, was meine Mutter mir manchmal über sie erzählte, waren diese Stücke wie Hinweise, die mich äusserst neugierig auf sie machten. Im Gespräch mit meiner Nanny erfuhr ich, dass meine Grossmutter Suizid begangen hatte. Meine Mutter und einige unserer Verwandten erklärten diesen als Folge einer starken Depression, aber für mich war das Gefühl des Geheimnisumwobenen, das ich die ganze Zeit gespürt hatte, nicht mit dem Freitod verbunden, sondern mit der Neugierde dieser Hausfrau, die sich niemals damit zufriedengeben würde, lediglich Hausfrau zu sein. Damit waren die Konturen einer Figur umrissen, die ich unbedingt näher untersuchen wollte.
Warum haben Sie sich entschieden, diesen besonderen Moment der chilenischen Geschichte aus der Sicht einer Frau zu erzählen, die aus einer konservativen, grossbürgerlichen Familie stammt? Ich grübelte lange über meine Grossmutter und die ganze Depressionstheorie nach, die das Kapitel «Erklärung ihres Todes» abschliessen würde, und sagte mir: «Moment mal, in welchem Jahr ist das passiert?» Und die Antwort war 1976. Aha 1976! Eines der grausamsten und dunkelsten Jahre der Diktatur! Bevor wir über Depressionen sprechen, sollten wir einen Blick auf das grosse Ganze werfen. Dann tauchte eine andere, übergreifende Frage auf, um diese Zeit in Chiles Geschichte, nicht nur meine Familienangelegenheiten, zu verstehen: «Wie können wir im Glauben leben, dass das, was ausserhalb unserer vier Wände passiert, nicht in unseren privaten Lebensraum eindringen kann? Was ist das für ein Mechanismus, der es uns ermöglicht, unser tägliches Leben weiterzuführen, während draussen Menschen ins Meer geworfen werden?»
Wem kann ich trauen, wem nicht?
Die Akteurinnen des Melodrama-Psychodrama-Thrillers
Im Alter von 18 Jahren spielte Manuela Martelli bereits eine Hauptrolle und wurde 2004 prompt als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Seitdem hat sie in mehr als fünfzehn Filmen gespielt. Nachdem sie ein Theater- und ein Kunststudium absolviert hatte, erhielt sie 2010 ein Fulbright-Stipendium, um einen Master in Filmregie zu machen, und wurde vom Programm Factory der Filmfestspiele von Cannes für die Produktion eines Kurzfilms eingeladen. Ihr Regieerstling «1976» hatte 2022 im Rahmen der Quinzaine in Cannes Premiere.
Vor sieben Jahren habe sie mit der Arbeit an diesem Projekt begonnen, sagt Martelli, darauf angesprochen, dass der Film nach dem Verfassungsreferendum und der Wahl des jungen Gabriel Boric zum Präsidenten 2021 zeitlich perfekt passe. «Für mich war die Frage, ob und wie die Mittelschicht während der Diktatur in der Lage war, über die eigenen vier Wände hinauszuschauen, dringlicher, als es heute den Anschein haben könnte. Vor allem, weil ich nach dem Studentenaufstand von 2019 begann, die Bilder der gewaltsamen Unterdrückung zu sehen, die während der Herrschaft Pinochets verbreitet waren. Es waren dieselben Bilder, das war schockierend! Der einzige Unterschied war, dass die modernen Bilder in Farbe waren.»
Zur grossen Schönheit und Bedeutung des Films trägt die Schauspielerin Aline Kuppenheim Wesentliches bei. Für sie ist Carmens Erwachen, mit allen Schwächen und Widersprüchlichkeiten, die in der Figur angelegt sind, das, «was ich heute von einer Gesellschaft wie der unseren erwarte oder erträume.» Sie schätzte an ihrer Regisseurin «die totale Kohärenz zwischen ihrer Sensibilität, ihrer multidisziplinären Vorbereitung und Erfahrung, ihren Referenzen, ihrem Anspruch und ihrer Strenge bei der Arbeit.» Manuela Martellis Klarheit und Eigenverantwortung habe sich wie eine Kettenreaktion auf das gesamte Team übertragen.
Aline Kuppenheim als Carmen schaut in eine schwierige Zukunft
In einen breiteren Zusammenhang gestellt
Drei Filmbesprechungen, die auf dieser Website erschienen sind, setzen «1976» von Manuela Martelli in einen grösseren Zusammenhang und verleihen ihm nochmals eine grössere Bedetung: Drei Filmbesprechungen dieser Website setzen «1976» in einen grösseren Zusammenhang: «Mi país imaginario» taucht der 1941Mit geborene Doyen des chilenischen Films, Patricio Guzmán, in die von Frauen getragene Revolution von 2019 ein. Im Filmessay «Nostalgia de la luz» verbindet er Wissenschaft, Geschichte und Philosophie mit der ihm eigenen Sehnsucht nach dem Licht. Mit «El botón de nácar» schuf er einen filmischen Essay über den Kolonialismus, schaffte eine Zusammenschau Chiles mit der Weltgeschichte und verdichtete dies in einem Gedicht.
Gespräch mit der Regisseurin Manuela Martelli
Regie: Manuela Martelli, Produktion: 2022, Länge: 95 min, Verleih: trigon-film