Amal

Das Mädchen vom Tahrir-Platz: Der Film «Amal» von Mohamed Siam ist das Porträt einer jungen Frau während der Ägyptischen Revolution, eine Analyse des Arabischen Frühlings und das allgemeingültige Gleichnis einer Welt im Aufruhr.
Amal

Action pur, gefährlich, voller Wut

2011 stand die vierzehnjährige Amal, die Tochter eines früh getöteten ägyptischen Polizisten, auf dem Tahrir-Platz und protestierte gegen das Mubarak-Regime, deshalb sie von Sicherheitskräften brutal misshandelt wurde. – 2012 begann der Dokumentarfilmer Mohamed Siam, die Halbwüchsige zu porträtieren, sechs Jahre lang, während der politischen Unruhen, zu begleiten. Er drehte 25 Stunden Film, dem Véronique Lagoarde-Ségot Struktur und Rhythmus verlieh.

«Eines Tages wird es in Ägypten eine Revolution geben. Tu was du willst, hab keine Angst.» Das sagte der Vater ihr kurz dem Tod. Worte. Amal wurde Hüterin dieser Prophezeiung, für die der Vater ihr Mentor, Schutzengel und schliesslich ihr Gott war. Mit der Energie einer Pubertierenden mischte sie sich in die von Männern dominierte Welt der Kairoer Ultras, die den Kampf im Namen einer unverstandenen Befreiung fortsetzten und teuer zu bezahlen hatten. Der Filmemacher beschreibt in seinem Doku-Drama die Handlungen auf dem Tahrir-Platz, die auch wir aus dem Fernsehen kennen, aber auch das Leben in der Familie. Er begleitet die Menschen auf dem Weg bis zur Desillusionierung in der Morsi-Zeit und schliesslich zum konterrevolutionären Staatsstreich von General Sissi.

Der Entwicklungsroman verfolgt Amal von der Jugend bis ins Erwachsenenalter, ergänzt mit Filmchen von Kindergeburtstagen. Der Film stellt zusätzlich eine intensive Suche nach Emanzipation von alten patriarchalen Schemata dar, wie dies auch andernorts in der Gesellschaft geschieht. Über seine Heldin oder Anti-Heldin meint der Regisseur: «Amal ist ein Kind der Revolution».

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Als Achtzehnjährige wird die persönliche Ertüchtigung für sie wichtiger

Vorgeschichte des Arabischen Frühlings

Der Arabische Frühling begann bekanntlich im Dezember 2010 in Tunesien und bewegte sich wie ein Flächenbrand über Marokko, Syrien und Ägypten. Zeugnisse dieser Bewegung in Form von Geschichten sind in den folgenden Filmen zu finden:

«As I Open My Eyes»: Am Vorabend des Arabischen Frühlings: Porträt einer jungen Frau in Tunis, die gegen männliche Strukturen Sturm läuft. Der Erstlingsfilm von Leyla Bouzid ist berührend, explosiv und aufklärend.

«Hedi»: Eine tunesische Liebesgeschichte: Kurz vor seiner arrangierten Hochzeit verliebt sich der Tunesier Hedi in eine Sportanimatorin, die in ihm die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben weckt. Prämierter Erstlingsfilm von Mohamed Ben Attia.

«La belle et la meute»: Vom Staat vergewaltigt: Polizisten vergewaltigen eine Frau, doch das Opfer wird zur Schuldigen. Die Tunesierin Kaouther Ben Hania entlarvt mit dem Trauerspiel «La belle et la meute» den Machismo in ihrem Land.

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Die zwanzigjährige Amal: angepasst oder integriert?

Aus einem Interview mit dem Regisseur Mohamed Siam

In der Eröffnungsszene des Films trägt Amal ein Superman-T-Shirt. Sehen Sie Amal als Superfrau? Ja, ich sehe sie als Superfrau, angesichts der Umstände, in denen sie lebt. Für mich ist sie keine Kämpferin, sie ist anpassungsfähig, eine grossartige Überlebende. Wie all die kleinen Kinder in den dunkelsten Märchen, die furchtbare Hindernisse überwinden müssen und weitermachen, egal was passiert.

Wie haben Sie Amal getroffen und was hat Sie fasziniert, sie zur Hauptfigur eines Films zu machen? Ich war auf der Suche nach Figuren aus der Fussballszene, den Ultras, fast ausschliesslich männliche Teenager, voll unkontrollierbarer Energie und Wut. Von ihnen wollte ich erfahren, wie das zukünftige Gesicht Ägyptens aussehen könnte. Unter all diesen Männern entdeckte ich eine kleine Person mit starker Stimme in einem Kapuzenpulli. Sie sah wie neutral aus, nicht wirklich ein Mädchen, nicht wirklich ein Junge. Sie führte eine Männer-Gruppe an. Ich fragte mich: Wer zum Teufel ist das? Sie bemerkte mich und meine Kamera, änderte ihr Verhalten jedoch nicht, sprach weiter. Ich sah, dass sie eine grossartige Person ist. Doch zu jener Zeit, kurz nach der Revolution, wusste ich nicht, was ich eigentlich wollte, lediglich, dass ich ihr folgen muss.

Können Sie den sozialen, politischen und historischen Kontext erklären, in dem der Film stattfindet? Amal wurde im Januar 1997 geboren, war 2011 vierzehn, als die Revolution begann, sie auf die Strasse gezerrt und von der Polizei zusammengeschlagen wurde. 2012 gab es die ersten freien Wahlen im Land, bei denen die Muslimbrüder an die Macht kamen. Bis zum Staatsstreich 2014 lebte Amal nach deren Regeln. Am Ende des Films war sie zwanzig. Jahr für Jahr haben wichtige Ereignisse die ägyptische Geschichte und ihr Leben geprägt.

Warum haben Sie Filmmaterial verwendet, das von Amals Vater gedreht wurde? Einer der Gründe war, zu verstehen, wo Amal herkam, wie nahe sie zu ihrem Vater stand. Ich wollte aber auch zeigen, dass sie seit ihrer Kindheit stets die gleiche Person geblieben war: lebhaft, laut, sich nach Aufmerksamkeit sehnend, eine starke Persönlichkeit. Ich habe versucht, die Beständigkeit in ihrem Leben zu unterstreichen, indem ich visuelle Verbindungen herstellte, etwa mit einem roten Ball, als sie Kind und junge Frau war.

Amal spricht leidenschaftlich über Politik. Ist das in Ägypten üblich? Es ist neu. In dem Moment, als Amal in diese Welt eintrat, sah sie und die ganze Generation Möglichkeiten für Veränderungen. Sie sah aber auch, wie Freunde von der Polizei verfolgt, geschlagen, getötet oder ins Gefängnis gesteckt wurden, sah ihren ersten Freund sterben. Im Gegensatz zur älteren Generation, die den Status quo übernahm, ist das Interesse an die Politik bei den Jungen aufrichtig, sie verstanden, dass sie die Dinge ändern können, dass ihnen das Land gehört. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass der Name Amal Hoffnung bedeutet.

Amal sagt zu den Männern, die sie auf der Strasse trifft: «Sprecht mit mir als Jungen, nicht als Mädchen». Natürlich ist es ein Weg für sie, Respekt zu erlangen, aber es ist auch Geschlechterkonfusion. Einmal sagt sie, dass sie glücklich sei, als Junge behandelt zu werden, gleichzeitig schmerzt es ihre Weiblichkeit, nicht als Frau wahrgenommen zu werden. Eines der Themen des Films ist also auch die Identitätsfindung: Wie formt sie Ihre Identität und findet sie sich als Frau, umgeben von übermässig vielen Männern? Weiter durchzieht den Film die Frage: Wer oder was will Amal wirklich sein und tun, jetzt und in Zukunft?

Interview von Pamela Pianezza für das Tess Magazine, frei übersetzt von HS

Regie: Mohamed Siam, Produktion: 2017, Länge: 83 min, Verleih: trigon-film