After the Storm

Leben, anders als geplant: Hirokazu Kore-Eda, der Magier des modernen japanischen Kinos, zeigt in seinem anspruchsvollen und gewöhnungsbedürftigen «After the Storm» eine Familiengeschichte um einen erfolglosen Autor. Der erfolglose Ryota
After the Storm

Der erfolglose Ryota

Ryota, der preisgekrönte, gut 40-jährige Schriftsteller, zehrt noch immer von seinem längst vergangenen Ruhm. Er ist geschieden und sein Geld, das er jetzt als Privatdetektiv verdient, rinnt ihm durch die Finger. Nach japanischem Massstab ein Versager. Den elfjährigen Sohn Shingo trifft er einmal im Monat, und seinen Unterhaltspflichten kommt er kaum nach. Vergeblich versucht er, das Vertrauen seiner Nächsten, der Mutter Yoshiko und der Ex-Frau Kyoko, wieder zu gewinnen. Doch dann zwingt ein Taifun die zerrissene Familie, eine Nacht lang zusammen zu verbringen.

Dass der Film mehrheitlich im Quartier gefilmt wurde, in welchem der Regisseur, der Japaner Hirokazu Kore-Eda, 54, selber lange gelebt hatte, dürfte nicht zufällig sein, sondern sagt wohl, dass es auch um sein persönliches Leben geht. «Vor einiger Zeit ist mein Vater gestorben und ich bin selber Vater geworden», erklärte er bei der Filmpremiere in Zürich. Auch sein Vater führte nie das klassische japanische Arbeiterleben und tat sich schwer, Geld zu verdienen.

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Ryota mit Ex-Frau und gemeinsamem Sohn

Kore-Edas Humanismus

In seinem feinfühligen, poetischen Film «Our Little Sister» aus dem Jahre 2015 erzählt Kore-Eda von vier Schwestern nach dem Tod ihres Vaters. Ein Jahr später widmet er sich mit «After the Storm» wieder einer Familiengeschichte, diesmal mit einem Mann im Mittelpunkt. Der Filmemacher erweist sich als genauer Beobachter menschlicher und zwischenmenschlicher Regungen und erzählt unspektakulär, dass es manchmal wie beliebig erscheint. Doch gerade die Beiläufigkeit, mit der er die alltäglichen Dinge des Lebens beschreibt, lässt Feinheiten unter der Oberfläche und im Hintergrund erkennen. Sie stehen diesmal für Ryotas Scheitern in der Beziehung mit andern und mit sich selbst. Im Film «After the Storm» heisst es einmal, das Leben sei «anders als geplant». Vielleicht ist das der Kernsatz des Films und von Kore-Edas Humanismus.

Das Erzähltempo ist bei diesem Regisseur immer extrem ruhig. Die Tempolosigkeit steht für den Status nach dem Sturm. Fast alle seine Filme widersetzen sich den Kinokonventionen mit Action und Abwechslung. Im neuesten Film zielt er auf das ganze Leben, nicht Ideale, sondern die menschliche Realität. Indem er den Idealismus aufgibt, kommt er zu einer menschlichen Wahrheit, ohne zu moralisieren. Der Film will nicht zeigen, wie man leben soll, sondern, wie Menschen leben – und er akzeptiert, ja er liebt sie, so wie sie sind, «mit einer hoffnungslosen Wirklichkeit belastet und unfähig, den Traum aufzugeben». Aus diesem Grund bleibt das Glück wohl unerreichbar, und der Film ist, wie nicht anders zu erwarten, pessimistisch, absurd und dennoch heiter, wie wir es aus Camus «Sisyphos» kennen.

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Kyoko, die moralische Instanz der Familie

Wenn die Geschichte sich verdünnt

Im Leben, in der Kunst, also auch im Film sind wir gewohnt, dass ein Plan vorliegt, nach dem alles abläuft; wenn nicht, wird es als Fehler, Bruch, Missgeschick taxiert. In «After the Storm» gibt es keinen solchen Plan. Der Film besteht aus Fragmenten, die nicht immer auf die Reihe zu bringen sind. Wie schon bei früheren Filmen, erzählt Kore-Eda eigentlich keine Geschichte, die als Erzählung viel hergibt. Er zeigt das ganze Leben! Das heutige, gestrige, morgige und wie diese Leben miteinander verbunden sind.

Im neuesten Film wird die Geschichte noch nebensächlicher als in früheren. Sie löst sich fast auf. Zurück bleiben Fragmente, die wir nach unserem Dafürhalten zusammensetzen. Und dies erinnert mich an Erfahrung mit der bildenden Kunst. Etwa an Claude Monet, der in seinem Garten in Giverny immer wieder Seerosen malte, bis diese sich in reine Farben auflösten. Oder an Wassily Kandinsky, der in München zu Beginn des letzen Jahrhunderts Landschaften und Stillleben malte, bis diese sich in Farben und Formen verwandeln.

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Der gemeinsame Sohn Shingo

Innere, nicht äussere Dramatik

Alltagssprachlich ist es übertrieben, bei Kore-Edas Filmen von Dramatik zu sprechen. Selbst der titelgebende Sturm, der andere Filmemacher dazu verleiten würde, ein reinigendes Gewitter zu inszenieren, fällt bei seiner subtilen Erzählweise zurückhaltend aus. Hier gibt es keine klärenden Gespräche und emotionalen Streitigkeiten mit anschliessender grosser Versöhnung. Äussere Dramatik scheint für ihn ein Fremdwort zu sein, und dennoch sind seine Filme reich an Emotionen und den darin enthaltenen Wahrheiten, die von einer inneren Dramatik erfüllt sind. Dazu passen die minimalistische Inszenierung und die Fokussierung auf Schauspieler und Dialoge.

Ich kenne keinen Regisseur, der uns so sanft an die Hand nimmt und zu Menschen, nicht zu Ideen, Thesen oder Idealen hinführt, wie Hirokazu Kore-Eda. Und da diese Filme aus seinem Inneren kommen, so meine ich, treffen sie auch unser Inneres, wenn wir den Eingang nicht mit Denken verbarrikadieren.

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Der Sohn mit seiner Mutter Yoshiko

Eigentlich stets der gleiche Film

Hirokazu Kore-Eda wurde 1962 in Tokyo geboren, er realisierte zahlreiche Dokumentarfilme, in denen die Erinnerung, das Leben und Sterben zentrale Themen waren. Im Spielfilm «Air Doll» 2010 reduziert er das Zwischenmenschliche auf die Beziehung eines Mannes zu einer aufblasbaren Puppe. «Still Walking» 2009 erzählt von neun Personen, die durch Liebe verbunden und durch Ressentiments getrennt werden. «Like Father, Like Son», 2013, Vaterschaft und Elternschaft, nach der Verwechslung von zwei Babys im Spital, in eine fundamentale Dimension. Die Idee für «After the Storm» reicht bis ins Jahr 2001 zurück. «Nachdem mein Vater gestorben war, begann meine Mutter, in einer Wohnsiedlung zu leben», sagt Kore-Eda, wie wir eine im Film sehen, und schrieb die folgenden Worte auf die erste Seite des Drehbuches: «Es ist nicht so, dass jeder sein kann, was er sein will.» Und im Film nimmt Ryota dies auf: «Ich bin noch nicht der, der ich werden wollte.»

Ähnlich wie sein berühmter Landsmann Yasujiro Ozu, beispielsweise in «Die Reise nach Tokio», dreht auch Hirokazu Kore-Eda im Grunde genommen immer Filme zum gleichen Thema, genauer Variationen desselben. Sie gleichen sich nicht nur inhaltlich, sondern auch meist im Milieu, in den sozialen Schichten. Und er arbeitet oft mit den gleichen Darstellerinnen und Darstellern.

In einem Lied im Nachspann wird die Grundidee des Films in poetischen Worten nochmals aufgenommen:
Von was für einer Zukunft habe ich geträumt?
Ich verabschiede mich von meinem gestrigen Ich.
Hello, du, der ich morgen sein werde.
Ich kann nicht aus meiner Haut heraus.
Also mache ich noch einen Schritt nach vorne.

Regie: Hirokazu Kore-Eda, Produktion: 2016, Länge: 117 min, Verleih: Filmcoopi