Finsteres Glück
Die Psychologin Eliane Hess und der traumatisierte Yves
Spätabends im Frühherbst 1999, am Tag der totalen Sonnenfinsternis im Elsass, wird die Psychologin Eliane Hess zu einem Notfall ins Krankenhaus gerufen. Eingeliefert worden ist der achtjährige Yves, der Stunden zuvor bei einem Autounfall seine Familie verloren hat. Der Junge steht unter Schock, redet ohne Ende, erwähnt jedoch mit keinem Wort das unaussprechlich Schlimme, das eben über ihn hereingebrochen ist. Eliane, alleinerziehende Mutter zweier Töchter von 22 und 17 Jahren, bleibt fürs Erste professionell distanziert. Doch bald einmal bewegt sie das Schicksal des traumatisierten Jungen und dessen dramatische Familiengeschichte. Der Fall geht ihr so nahe, dass sie ihre Distanz zum kleinen Patienten zunehmend verliert, ihm um jeden Preis helfen und ihn beschützen möchte, so vor seiner Tante und seiner Grossmutter, die sich um das Sorgerecht des Knaben streiten. Zudem lässt das Schicksal des Jungen in Eliane ungeahnte Erinnerungen an ihr vergangenes Leben hochkommen, die sie längst vergessen glaubte, und die auch für ihre Töchter brisant sind. Elianes Gefühle für den kleinen Buben werden noch stärker, als er vorübergehend in ihre Obhut gegeben wird. Yves erobert nach und nach auch die Herzen ihrer zwei Töchter Helen und Alice. Es passiert Erstaunliches: Die beiden, die sich auch altershalber zunehmend von der Mutter abgewandt haben, rücken wieder näher zusammen und öffnen sich der neuen Situation. Doch dann wird Yves seiner Tante zugesprochen und wird abgeholt. Als er sich zu wehren beginnt, ist es zu spät. Eliane möchte um Yves kämpfen und weiss doch genau, dass ihr dies nicht zusteht. Yves’ Zustand verschlechtert sich am neuen Ort zunehmend. Er verschliesst sich seiner Umgebung, reisst nachts aus, verstummt und verweigert schliesslich die Nahrungsaufnahme. Es muss gehandelt werden, in der Folge nimmt das Leben von Eliane Hess und ihrer Töchter eine neue, unorthodoxe Wendung, die darin gipfelt, dass die neu zusammengesetzte «Familie» ins Elsass und an den schicksalhaften Ort des Unfalls zurückkehrt. Eine wagemutige Reise mit ungewissem Ausgang.
Die Töchter Helen und Alice (v. l.) werden Teil der Geschichte
Das Gleichnis von der Unzulänglichkeit des Menschen – Versuch einer Annäherung
In ihrer Besprechung der Giacometti-Ausstellung «Material und Vision» schreibt Paulina Szczesniak (hier leicht gekürzt): «Ihn interessiert das, was jeden von uns mehr interessiert als alles andere: Wie wir selber sind, mit all unserem Hadern und Zaudern. Er sah und zeigte den Menschen nicht idealisiert, sondern entidealisiert. Wer das anschaut, braucht sich seiner eigenen Unzulänglichkeit nicht zu schämen. Denn was vor uns steht, ist wie wir: weit am Ideal vorbei, getrieben, rastlos, mitgenommen. Und in dieser Unvollkommenheit – vollkommen.» Genau so sehe ich den Film von Stefan Haupt. Weder die Psychologie noch die Medizin, weder die Sozialarbeit noch der Staat heben die uns eigene Unzulänglichkeit auf. Die Eigenschaften schwach, befangen, behindert, fehlerhaft, unvollkommen, eben menschlich. Dafür steht der Film, ehrlich und mutig. Doch das meinten wohl auch schon die Römer mit «Errare humanum est».
Diese, trotz hoher Ideale, menschliche Unzulänglichkeit hat der Regisseur mit seinem Team differenziert und grossartig in Szene gesetzt. Bereits Lukas Hartmann breitet in seinem Buch die Themen des späteren Films aus. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben den Ideen Fleisch und Blut gegeben. Hervorheben möchte ich Eliane Hess, privat Eleni Haupt und Stefans Gattin, welche die Mehrschichtigkeit und Widersprüchlichkeit glaubhaft und nachvollziehbar, hier leidenschaftlich, dort kontrolliert, spielt. Ebenso den zehnjährigen Yves Zanini, den Noé Ricklin rundum überzeugend spielt, dass man ihm in jeder Szene folgt. Ebenso erwähnenswert sind die einfallreiche Kameraarbeit von Tobias Dengler, der präzise Schnitt von Christoph Schertenleib und die unaufdringliche und dennoch präsente Musik von Tomas Korber. Alle miteinander haben, in meinen Augen, mit «Finsteres Glück» den besten Schweizer Spielfilm 2016 realisiert.
Yves: Opfer einer Tragödie und Auslöser neuer Entwicklungen
Vielleicht schon ein Opus magnum
Wenn man gelegentlich sagt, dass Künstler immer das gleiche Werk schaffen, so trifft das auch auf Stefan Haupt zu. Im neuen Film sind seine früheren enthalten und weiter entwickelt. Bereits in «Utopia Blues», aus dem Jahre 2001, begleitet Haupt einen Jungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, beim Balanceakt zwischen seinem Drang nach Freiheit und den Forderungen der Gesellschaft. – «How About Love» von 2010 handelt von der Zerreissprobe zwischen professionellem Engagement und privater Menschlichkeit, zwischen dem Strudel der Gefühle und der Verstrickung mit dem gesellschaftlichen Regelwerk und findet am Schluss eine unkonventionelle Lösung. – Der Dokumentarfilm «Sagrada – El misteri de la creació», 2012, lebt von der Unerreichbarkeit des genialen Bauwerkes und der ewigen Sehnsucht nach diesem Ziel, überhöht mit philosophischen Fragen über das Mysterium der Sagrada familia. – Selbst sein erster, noch halb privater Dokumentarfilm über seine nach Kanada ausgewanderte Grossmutter, «I'm Just a Simple Person» von 1998, handelt vom Durchbrechen von Normen durch einen alten Menschen. – Und schliesslich Stefan Haupts erfolgreichster Film, «Der Kreis» aus dem Jahre 2014, erscheint mir im Rückblick als Parabel der sich aufbäumenden und an die Öffentlichkeit drängenden Geschlechtlichkeit gegenüber Jahrhunderte alten Geboten und Verboten – wie «Finsteres Glück» von universaler Bedeutung.
Nie sind es bloss Zitate oder Wiederholungen früherer Filme, sondern in jedem neuen Film macht Stefan Haupt einen weiteren Schritt in sein Thema, seine Umwelt, sein Welt- und Menschenbild. Genau wie Giacometti unzählige Male dem «L'homme qui marche», seinem «Homo viator» (Marcel Gabriel), Gestalt verlieh, weil dieser für ihn fundamental war und ihm nichts Ebenbürtiges zur Seite stellen konnte. Selbst seine Porträts sind in ihrer Prozesshaftigkeit Bilder des auf dem Weg Seins.
Der Isenheimer Alter verweist auf ein geheimnisvolles Dahinter
Anmerkungen von Stefan Haupt
Am 11. August 1999 bestieg ich am frühen Morgen in Zürich den Zug nach Strasbourg, um dort die totale Sonnenfinsternis zu erleben, welche an jenem Tag im Elsass und in Süddeutschland zu beobachten war. Dort, am Quai de la Petite France, wartete ich unter Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von anderen Menschen auf den grossen Moment. Wir hatten Glück. Die Sonne schien zur Mittagszeit. Das plötzliche Eindunkeln, das Verstummen der Vögel und Menschen, die Fahlheit des Lichts, die eintretende Kühle: Es war ein magischer, unheimlicher Moment, und man verstand instinktiv, weshalb bis in die Neuzeit hinein Sonnenfinsternisse als Unheil bringende Zeichen göttlicher Schicksalsmächte galten.
Elf Jahre später erhielt ich von Lukas Hartmann Post. Der bekannte Schweizer Autor sandte mir seinen neusten Roman zu – «Finsteres Glück» – dessen Erzählung mit genau diesem Tag beginnt. Ich begann das Buch zu lesen und war sofort in seinen Bann gezogen.
Ein kleiner Junge, Yves, mit einem dunklen Geheimnis, der in einer Familie aufwächst, die ihm keine wirkliche Geborgenheit bietet. Die Beziehung seiner Eltern: überschattet von massiven gegenseitigen Vorwürfen, finanziellem Druck, häuslicher Gewalt. Nach dem tödlichen Autounfall steht der Knabe auf einen Schlag mutterseelenallein da, völlig schutzlos sich selbst überlassen.
Und daneben eine Psychologin, Eliane, alleinerziehend und autonom, die dem Schmerz über den Abschied der «Kinderjahre» kühl und rational begegnet. Dass es mit der grossen Liebe in ihrem Leben nicht wirklich geklappt hat: Für sie ist es überwunden. Gefühle und Sehnsüchte werden im Beruf professionalisiert und domestiziert.
Diese beiden Menschen treffen nun – am Tag der Sonnenfinsternis – aufeinander. Was daraus entsteht, ist eine zarte, ungewöhnliche «Liebesgeschichte»: Der Knabe spürt instinktiv, dass die Traumatherapeutin fähig ist, seinem Schicksal zu begegnen. Und gleichzeitig bringt er sie völlig unverhofft mit ihrer eigenen, ungelebten Trauer in Kontakt. Sie, die den Auftrag erhalten hat, Yves zu heilen, erfährt, dass dieser Knabe genauso für sie und ihre Familie zum Katalysator wird. Denn auch Elianes Töchter können sich diesem Sog nicht entziehen, alle werden sie in der Folge an den Ort ihrer Verletzungen herangeführt.
Das universelle Thema Familie, das uns alle betrifft und betroffen macht; die Grenze zwischen Beruflichem und Privatem, die immer stärker verwischt; der Kampf um Liebe, Zugehörigkeit und Geborgenheit, die Frage nach Schuld und Unschuld – was schliesslich zählt, ist die Kraft, sich schonungslos dem Erlebten, dem eigenen Schicksal in seiner ganzen Tiefe zu stellen. Dass im Roman dann auch noch der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald in Colmar eine wichtige Rolle spielt – ein Gemälde aus dem späten Mittelalter, das ich seit meiner eigenen Kindheit kenne und liebe –, hat mich berührt. Und doppelt gefreut.
Regie: Stefan Haupt, Produktion: 2016, Länge: 114 min, Verleih: Xenixfilm