Plan 75

Staatlich verordnetes Sterben: In naher Zukunft ermutigt ein japanisches Regierungsprogramm ältere Menschen zum freiwilligen Sterben, um die Überalterung der Gesellschaft zu bekämpfen. Die Regisseurin Chie Hayakawa entlarvt mit ihrem Spielfilm «Plan 75» den gesellschaftlichen Trend hinter diesem Plan als Horror-Vision: bitterernst, zum Weiterdenken. Ab 4. Mai im Kino
Plan 75

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Aus dem Verschwommenen in die Klarheit


Ein buntes abstraktes Bild, mit harmonischen Klavierklängen untermalt, füllt die Leinwand, bis dieses allmählich klar und lesbar als eine Erschiessungsszene erkennbar wird. Der Schütze kommt in den Vordergrund, wäscht das Blut von den Händen, während im Durcheinander der Wohnung das Rad eines umgekippten Rollstuhls im Leeren dreht. Dazu wird ein Text gesprochen, der das Vorspiel erklärt und gleichzeitig auf eine Deutung des ganzen Film verweist: «Der Überschuss an Senioren ist eine schwere Belastung für die Wirtschaft und verursacht enorme Kosten für die jüngere Generation. Es ist sicherlich nicht der Wunsch der Ältesten, unser Leben zu verderben. Es ist eine lange Tradition der Japaner, sich mit Stolz aufzuopfern für das Wohl ihrer Nation. Ich bete, dass meine mutige Tat der Auslöser sein wird für eine breite Debatte und dass sie unserem Land eine hellere Zukunft beschert.» Dann führt der Blick hinaus, anfangs undeutlich, dann immer klarer. Grossartig die Kameraarbeit von Hideho Urata und das paraphrasierende Klavierspiel von Rémi Boubal.

Die im Film als Fiktion gezeigte Erschiessung bezieht sich auf den historisch verbürgten Messerangriff von Sagamihara vom 26. Juli 2016, bei welchem 19 Menschen in einem Behindertenheim getötet wurden, ausgeführt von einem 26-Jährigen, der zuvor in dieser Einrichtung gearbeitet hatte. Nach der Tat stellte er sich der Polizei, wurde festgenommen, kam in eine Klinik, da er Fantasien über Tötungen behinderter Menschen geäussert hatte. Nachdem er einen Brief ans Japanische Parlament geschickt hatte, in dem er sich anbot, Behinderte zu töten, wurde er 2020 zum Tode verurteilt.

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Betreuerin Yoko mit Seniorin Michiko

Den «Plan 75» ...

Dann beginnt die Haupthandlung des Films. Der «Plan 75» wird hochprofessionell konzipiert, ausgearbeitet, lanciert und in der älteren Bevölkerung implementiert. Der Umgang mit den Senior:innen wirkt zuvorkommend, umsorgend, doch eigentlich «gewaltsam mit sanftem Gesicht», wie es die Regisseurin bezeichnet. Damit sollen die Alten ihren Beitrag leisten, dass die sogenannte Überbevölkerung abgebaut wird. Die Regisseurin antwortete, als man sie fragte, ob der Film, mit Ausnahme des Euthanasie-Systems, die reale Situation der älteren Menschen in Japan beschreibe: «Ich denke schon, was die intolerante Atmosphäre gegenüber sozial schwachen Menschen, einschliesslich älterer Menschen, angeht. Den "Plan 75" gibt es in der Realität nicht, aber alles andere, was gezeigt wird, ist vorhanden, wie zum Beispiel die Tatsache, dass viele ältere Menschen aufgrund des unsicheren Rentensystems arbeiten müssen, es für sie schwierig ist, eine Wohnung zu finden, sie sich aus der Gesellschaft ausgestossen fühlen und aus Schamgefühlen zögern, Hilfe beim Sozialamt zu suchen. Es herrscht eine Atmosphäre, in der ältere Menschen unter Druck gesetzt werden, dass sie sich nutzlos fühlen. Intoleranz, Apathie und mangelnde Vorstellungskraft für den Schmerz anderer sind die bedrohlichsten Dinge, die ich im Film darstelle.»


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Das Personal umsorgt die Alten

... im Quartett durchgespielt


Einer der Manager des Planes ist der junge Hiromu. Dieser begegnet bei seiner Arbeit seinen Onkel Yukio, den er zwar seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hat, wegen seiner Verwandtschaftsbeziehung dessen Betreuung einem Kollegen abtreten muss. Eine Mitarbeiterin ist die junge philippinische Mutter Yoko, die als Telefonistin die potenziellen Kunden zu betreuen hat. Ihr ist unter anderen die alte Frau Michiko zugeteilt. Die vier Protagonist:innen spielen, wie ein musikalisches Quartett den «Plan 75» durch: zwei als Agierende, zwei als Reagierende und erfüllen ihn mit Leben. Mit ihnen wird der «Plan 75» sinnlich erlebbar und die dahinter liegende Haltung und Idee spürbar und erkennbar.  

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In Karaoke-Seligkeit gehüllt


Exkurs auf andere japanische Filme


Weitherum bekannt ist das japanische Kino mit seinen Filmen zu den Themen Familie, Ehe und Generationen: so «Tokyo Monogatari» des Grossmeisters Yasujirō Ozu, die vielschichtigen, poetischen Filme von Kore-eda Hirokazu, beispielsweise «Still Walking», «Like Father, Like Son» oder «Our Little Sister». Weiter die berühmte Ballade «Narayama Bushiko» von Shohei Imamura, die am Beispiel der 69jährigen Orin das Leben und Sterben in einem alles umfassenden Kosmos zeigt. Neben diesen bekannten Werken des japanischen Kinos verlangt «Plan 75» von Chie Hayakawa, diese kritische, schöne, kluge und nur leise Hoffnung andeutende Schilderung einer fragwürdigen, unmenschlichen, dystopischen Lösung der «Überalterung» in Japan, wohl auch bei uns, Zurückdenken in die Vergangenheit und Vorwärtsdenken in die Zukunft.

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Hiromu begegnet seinem Onkel Yukio


Der Grund hinter den Gründen?


Zum Anfang zurück: «Der Überschuss an Senioren ist eine schwere Belastung für die Wirtschaft und verursacht enorme Kosten für die jüngere Generation ... Es ist eine lange Tradition der Japaner, sich mit Stolz aufzuopfern für das Wohl ihrer Nation», hiess es im Einleitungskommentar. Nachdem wir erlebt haben, wie «Plan 75» funktioniert, drängt es sich auf, das zu hinterfragen. Zu den Gründen, warum alte Menschen den «Plan 75» so leicht akzeptieren, sagte die Regisseurin: «Es gibt eine starke Vorstellung, dass die Japaner:innen (vor allem ältere), niemanden belästigen wollen. Das ist eine Art Moral. Sie haben Angst davor, ihrer Familie, ihren Freund:innen oder der Gesellschaft zur Last zu fallen. Ausserdem gibt es einen unsichtbaren sozialen Druck, der ihnen das Gefühl gibt, nutzlos und eine Belastung für die Gesellschaft zu sein. Auch die Medien schüren die Angst vor dem Alter und der alternden Gesellschaft, sodass die Ängste der Menschen immer grösser werden. Auch die japanische Regierung scheint den Menschen die Botschaft zu vermitteln, dass sie sich selbst helfen müssen.»

Auf die Frage, ob man die gefilmte Situation als präfaschistisch bezeichnen könne, ob der Film eine Kritik am Ultraliberalismus sei und wir bei dieser Idee der Eliminierung des Unproduktiven von Faschismus sprechen könnten, antwortete die Regisseurin: «Ich habe nicht die Absicht, den Ultraliberalismus im Besonderen zu kritisieren. Aber ich habe versucht, die Gesellschaft zu kritisieren, die der Wirtschaft und der Produktivität Vorrang vor der Menschenwürde einräumt. Das zu eliminieren, was sie "die Unproduktiven" nennen, kommt dem Konzept des Faschismus sehr nahe. Obwohl wir keine Diktatur haben, wird eine solche Atmosphäre unter den Menschen geschaffen. Das ist es, was mir Angst macht.»

Befrage ich den Film nochmals, fällt mir eine Antwort ein, die vom Schriftsteller und Essayisten Jonas Lüscher stammt, der unter Kapitalismuskritikern als Prophet gilt und sich angesichts des CS-Debakels und des UBS-Monsters bestätigt sehen kann. In einem Artikel in der «NZZ am Sonntag» vom 26. März 2023 schreibt er unter anderem: «Es ist Zeit für mehr utopisches Denken.» Wer seinen dort gemachten Überlegungen folgt, wird vielleicht seine Novelle «Frühling der Barbaren» aus dem Jahr 2013 hervorholen und in die darin beschriebenen Horrorvision eintauchen, die unserem aktuellen und noch bevorstehenden Finanzdesaster verwandt ist, in welchem die Finanzwirtschaft die Realwirtschaft in Geiselhaft nimmt. – Wieder einmal zeigt sich, dass ein scheinbar bloss schöner und guter Spielfilm, wenn er hinterfragt wird, hoch politisch werden kann.

Regie: Chie Hayakawa, Produktion: 2022, Länge: 112, Verleih: First Hand Films