Le jeune Ahmed

Vom Imam verführt: Die belgischen Filmemacher Jean-Pierre und Luc Dardenne zeigen uns in «Le jeune Ahmed» das Leben eines jungen Mannes, der in die Fänge des Islamismus gerät: aufwühlend, verunsichernd, doch wichtig. – Ab 5. Dezember im Kino
Le jeune Ahmed

Wie Ahmed vom Opfer zum Täter wird

Ein packendes Porträt des 13-jährigen Ahmed, eines gewissenhaften Schülers, der sich unter dem Einfluss von Youssouf, einem radikalen Imam, innert kurzer Zeit zum religiösen Fundamentalisten wandelt. Angestiftet von dessen Verschwörungstheorien begeht der Junge an seiner Lehrerin Inès eine Gewalttat und landet im Gefängnis. Sein verstocktes Verhalten isoliert ihn zunehmend von seinen Nächsten. Überfordert von den Konsequenzen seiner Handlungen und den Herausforderungen der Adoleszenz, sucht er verzweifelt einen Ausweg aus seiner vertrackten Situation.

Erneut erzielen die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, die schon als Sozialarbeiter des Kinos bezeichnet wurden, mit ebenso sparsamen wie präzisen Mitteln grosse Wirkung und eine starke Herausforderung. Mit dem emphatischen, wertungsfreien Interesse, das zum Markenzeichen ihrer Filme wurde, richten sie den Fokus auf ihre junge Hauptfigur, der sie Verantwortungsbewusstsein und Entwicklungsfähigkeit zugestehen.

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Mit seinem Mentor Youssouf

Anmerkungen der Regisseure

Als wir dieses Drehbuch fertig geschrieben hatten, wurde uns bewusst, dass unsere Geschichte eigentlich von den fruchtlosen Versuchen verschiedener Personen handelt, unsere Hauptfigur, den jungen Fanatiker Ahmed, dazu zu bringen, von seinem Mordanschlag Abstand zu nehmen. Egal wer, ob seine Lehrerin, seine Mutter, sein Bruder, seine Schwester, sein Betreuer, der Richter, die Psychologin der Jugendstrafanstalt, sein Anwalt, die Besitzer des Bauernhofs, auf dem man ihn unterbringt, deren Tochter Louise, keinem von ihnen gelingt es, zu dem harten, rätselhaften Kern dieses Jungen vorzudringen, der bereit ist, im Namen seiner religiösen Überzeugungen seine Lehrerin umzubringen.

Als wir mit dem Schreiben begannen, konnten wir uns noch nicht vorstellen, dass wir dabei waren, eine so verschlossene Figur zu erschaffen, die uns so sehr entgleitet, uns keine Möglichkeit lassen würde, sie durch eine dramatische Konstruktion wieder einzufangen und aus ihrem mörderischen Wahn zu befreien.

Selbst Youssouf, der fundamentalistische Imam der Moschee, der Verführer, der die idealistische Energie des jungen Mannes benutzte, um sie in den Dienst der Reinheit und des Hasses auf die Unreinen zu stellen, selbst er, der Meister, ist von der Entschlossenheit seines Schülers überrascht. Und doch, wie hätte es anders sein können, wenn der Fanatisierte so jung ist, fast ein Kind noch, und wenn sein verführerischer Meister ihn dazu anhält, seinen Cousin zu verehren, einen toten Märtyrer?

Wie den mörderischen Kurs dieses fanatischen Jungen aufhalten, der sich dem Wohlwollen seiner Betreuer, der Liebe seiner Mutter und den Liebesspielen der jungen Louise so völlig verschliesst? Wie ihn ohne naives und unglaubhaftes Happy End in einem Moment festhalten, in dem er sich dem Leben öffnen und der bisher so verachteten Unreinheit zuwenden könnte? Welche Szene, welche Einstellung könnte es ermöglichen, diese Verwandlung zu filmen und den Blick des Zuschauers zu trüben, um Ahmed in seine Umnachtung zu folgen, in seine Besessenheit, von der er endlich würde erlöst werden?

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Die Lehrerin und ihr Schüler

Vom Leid und Schmerz bis zur Ode an das Leben

Die vorstehenden «Anmerkungen» zum Entstehungsprozess des Films legen mir nahe, dass die Dardenne-Brüder ihre Geschichte selbst intensiv miterlebt und beschrieben haben, als ob Ahmed selbst sie zum Schreiben des Drehbuches und zum Drehen des Films angetrieben hätte. Vergleiche ich «Le jeune Ahmed» mit anderen ihrer Werke, komme ich zum Schluss, dass auch diese ähnlich entstanden sind. Vielleicht ist darin die Einmaligkeit der beiden Filmemacher zu finden: Sie haben Menschen um sich herum immer wieder in Leid und Schmerz gesehen, was sie dann gedrängt hat, deren Geschichten zu erzählen.

Auf diese Erklärung bringt mich auch ein Text von Olga Tokarczuk, der letztjährigen Literatur-Nobelpreisträgerin, die in einem ihrer Romane Ähnliches schrieb: «Um zu verstehen, was um uns herum geschieht, sollten wir uns zuerst auf den Schmerz, auf das Leiden konzentrieren. Wir können einen anderen Menschen nicht verstehen, solange wir nicht seinen Schmerz und sein Leiden verstehen. Das ist die Basis der Kommunikation: das Mitgefühl.» Nochmals erhellend wirkt auf mich, dass die Preisträger von «Le jeune Ahmed» in ihrer Dankesrede den Film als «Aufruf zum Leben, als Ode an das Leben» bezeichnen und verstanden haben möchten.

Filme erweisen sich oft als Seismografen der äusseren und inneren Bewegungen der Gesellschaft, weshalb auch oft verschiedene Autoren sich der ähnlichen Themen annehmen. In letzter Zeit sind, neben «Le jeune Ahmed», zwei andere wichtige Filme ins Kino gekommen, die sich mit dem Djihadismus beschäftigen, ihn aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Es sind dies «Shafak. Wenn der Himmel sich spaltet» von Esen Işik und «Adieu à la nuit» von André Téchiné.

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In der Jugendstrafanstalt

Jean-Pierre und Luc Dardenne: die Sozialarbeiter des Kinos

Jean-Pierre und Luc Dardenne wurden 1951 und 1954 in Belgien geboren. Jean-Pierre studierte Schauspiel am Institut d’Art Dramatique in Brüssel, Luc Philosophie an der katholischen Universität in Leuven. Nachdem sie gemeinsam einige Dokumentarfilme gedreht hatten, debütierten sie 1986 mit ihrem ersten Spielfilm «Falsch», 1992 folgte «Je pense à vous».

Einen Wendepunkt in ihrer Karriere schafften die beiden Regisseure 1996 mit ihrem dritten Spielfilm, «La promesse», der auf nationalen- und internationalen Filmfestivals zu sehen war und zum Publikumserfolg avancierte. Der endgültige Durchbruch gelang ihnen drei Jahre später mit «Rosetta», für den sie, genauso wie die junge Hauptdarstellerin Emilie Dequenne, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurden. Dann folgten Filme wie 2002 «Le fils», 2005 «L’enfant», 2008 «Le silence de Lorna», 2011 «Le gamin au vélo», 2014 «Deux jours, une nuit» und 2016 «La fille inconnue». Alle ihre Filme wurden in Cannes im Wettbewerb gezeigt und, bis auf eine Ausnahme, auch ausgezeichnet. Mit «Le jeune Ahmed» erhielten die Filmemacher die Goldene Palme für die beste Regie.

Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne, Produktion: 2019, Länge: 84 min, Verleih: xenixfilm