The Third Murder

Unauffindbare Wahrheit: Ein Anwalt hat einen Mörder zu verteidigen, der seine Tat gesteht. Alles scheint klar. Doch erst jetzt beginnt die Suche nach der Wahrheit, in «The Third Murder», dem neuen Film von Kore-eda. - Kinostart 24. Mai
The Third Murder

Tomoaki Shigemori, der Anwalt, Misumi Takashi, der Mörder (v. l.)

Mit der Wahrheit ist es so eine Sache. Wie definiert man sie? Ist sie nicht bloss eine private Erfindung? Legt sich nicht jeder seine eigene Wahrheit zurecht? – Der prominente Anwalt Tomoaki Shigemori macht es sich leicht, indem er sagt, dass die Wahrheit ihm egal sei, er wolle nur seinen Klienten vor der Todesstrafe bewahren, wofür er die bestmögliche Verteidigungsstrategie brauche. So erklärt er sein Tun einem jungen Kollegen und lacht dazu. Irgendwann im Laufe des Films «The Third Murder», des neuen Werkes des japanischen Grossmeisters Hirokazu Kore-eda, wird sich Shigemori eingestehen müssen, dass das nicht genügt. Aber bis dahin bleibt ein langer Weg, durch Umwege mit Lügen und Erfindungen, mit Warten beim Suchen und Fragen.

Das kaum Wahrnehmbare wahrnehmen

Mit dem Geständnis von Misumi Takashi ist der Mordfall eigentlich geklärt. Er hat seinen Boss getötet und verbrannt. Doch auch ein geständiger Mörder muss in einem zivilisierten Land einen Prozess bekommen, bei dem Verteidiger eingesetzt, Umstände abgeklärt, Strafmassnahmen beschlossen werden. Damit wird ein scheinbar einfacher Fall wie dieser kompliziert. Es sind die Schilderungen der dabei auftretenden menschlichen Komplikationen, auf die sich der japanische Filmemacher Kore-eda versteht wie nur wenige. In seinen Werken ist das kaum Wahrnehmbare der Kern und der Sinn. Er gibt sich zwar impressionistisch leicht, ist aber in höchstem Masse analytisch und nachhaltig bohrend.
In «The Third Murder» interessiert er sich auf eine grundsätzliche, eine menschliche und existenzielle Weise für die Fragen nach der Wahrheit. Der Mord ist geschehen, er wird dem Publikum in der ersten Sequenz ausführlich gezeigt. Doch dem Regisseur geht es darum, die Umstände – eben die Wahrheit dahinter – zu verstehen. Und dafür erweist sich der Mörder Misumi als ein unzuverlässiger Angeklagter und Zeuge. Er leugnet die Tat nicht, erzählt sie aber immer wieder anders, sodass der Anwalt Shigemori, die zentrale Figur des Films, verunsichert wird und fast verzweifelt.

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Yamanaka Sakie, die Tochter des Opfers

Ein philosophischer Thriller


Shigemori Tomooaki – und mit ihm das ganze Justizwesen – ist am Fall von Misumi Takashi auf der Suche nach dem, was wir als «Wahrheit» bezeichnen. Wir kennen seit Beginn der Geschichte die Tatsachen. Im Verhör mit der Polizei hat er die Tat gestanden, bei der Vernehmung durch die Anwälte wechseln seine Geschichten jedoch so oft wie das Wetter an einem Frühlingstag. Mal hat er den Chef umgebracht, um ihn auszurauben; mal behauptet er, die Frau des Toten habe ihn zum Mord angestiftet, um die Lebensversicherung zu kassieren; dann soll es um einen Etikettenschwindel bei den Lebensmitteln gegangen sein, die im Unternehmen des Toten hergestellt wurden.
Dieses Verwirrspiel erinnert an Kurosawas Meisterwerk «Rashomon», in dem die Wahrheit über einen Mord ebenfalls im Geflecht dreier Aussagen gesucht werden muss, die zwar alle Sinn machen, sich aber widersprechen und eine philosophische Diskussion über die Existenz der Objektivität der Realität, also auch der Wahrheit, anstossen. Kore-eda geht weiter. Sein Film ist ein philosophischer Thriller, er handelt von Schuld, Gewalt und den Leiden, die sich Menschen gegenseitig zufügen, und frägt weiter und weiter, ob es eine objektive Wahrheit gibt. Für den Anwalt hat der Fall zudem eine persönliche Note. Bereits sein Vater hatte den aktuell Angeklagten vor 30 Jahren als Richter verurteilt. Auch damals hatte dieser zwei Geldeintreiber umgebracht und wechselte das Motiv für die Tat mehrmals.

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Der Täter, direkt nach der Tat

Der Spiegel der Wahrheit

Die Gespräche zwischen dem Anwalt und dem Mandanten stehen im Zentrum des Films: zwei Männer, durch eine Sicherheitsscheibe getrennt und sich darin spiegelnd. Wie dies die Kommunikation erschwert, so auch das Wahrnehmen und Erkennen. Die Vorstellung einer objektiven Wahrheit zerfällt in Stücke, an den Platz der einen setzt Kore-eda viele Wahrheiten, die durch eine Reise nach Hokkaido und in die Vergangenheit des Mörders weitere Dimensionen bekommen und das Wahrheitsverständnis der Justiz radikal hinterfragt. Das Gleichnis vom Elefanten, den zwei Blinde berühren, der eine den Rüssel, der andere die Ohren, und jeder meint, das Tier nun zu kennen, weist in die richtige Richtung. Ebenso der Satz von Dschaelal Rumi, dem Sufimeister aus dem 13. Jahrhundert: «Die Wahrheit ist ein Spiegel, der vom Himmel gefallen und in tausend Stücke zersplittert ist, jeder besitzt einen kleinen Splitter und glaubt, die ganze Wahrheit zu besitzen».

Wie in all seinen Filmen erzählt der Regisseur auch in «The Third Murder» in ruhigem Einstellungen und legt Wert auf die Dialoge. Untermalt werden die Bilder von der Musik des italienischen Minimalisten Ludovico Einaudi. Dieses Zurücknehmen schafft die Intensität im Zusammenspiel des Mörders mit dem Anwalt. Männer, vor allem Anwälte, diskutieren über die Todesstrafe; wann ein Mensch «das Recht» hat, einen anderen zu töten; wer sich überhaupt zum Richter aufschwingen darf; ob es Menschen gibt, die besser nie geboren wären. Kore-eda dazu: «Normalerweise erreicht ein Film am Ende die Wahrheit. Doch mit diesem Film endet nur das Gerichtsverfahren, während die Charaktere die Wahrheit nicht sehen. Es zeigt, dass unsere Gesellschaft ein unvollkommenes System duldet, das sich nicht aufrechterhalten kann, es sei denn, die Menschen urteilen über andere, ohne die Wahrheit zu kennen.» Und Sakie, die Tochter des Mörders, meint gegen Schluss zum Anwalt, dass hier niemand die Wahrheit gesagt hat – und lässt uns folgern, dass wohl niemand diese kennen und aussprechen kann.

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Der Anwalt Tomoaki Shigemori beim Plädoyer

Hirokazu Kore-eda: sein Leben und Werk

Kore-eda wurde 1962 in Tokio geboren. 1987 nach dem Abschluss an der Waseda University arbeitete er als Film- und TV-Produzent. Sein erster Dokumentarfilm war «Maborosi», der 1995 in Venedig prämiert wurde. Es folgten «After Life», «Distance» «Nobody Knows», die alle mehrfach ausgezeichnet wurden. Berühmt wurde er dann vor allem 2008 mit dem Familiendrama «Still Walking», 2009 mit «Air Doll», 2011 mit «I Wish», 2013 mit «Like Father, Like Son» und 2015 «Our Little Sister» sowie 2016 mit «After The Storm» und jetzt «The Third Murder», der 2018 in Cannes auf dem Programm steht.

Trailer

Regie: Hirokazu Kore-eda; Produktion 2017, Länge: 124, Verleih: cineworx