Miraggio

Stumme Schreie: Nina Stefanka hat in Rom sechs Flüchtlinge aus Westafrika begleitet und mit «Miraggio» ein stilles, erschütterndes Mahnmal des unmenschlichen, hoffnungslosen und absurden Flüchtlingswesens geschaffen.
Miraggio

Yassine mit Kollege

Es gibt Filme, die man eigentlich gar nicht sehen möchte, weil man sich fürchten, dass sie einen im Tiefsten verunsichern. Doch wir wissen, dass wir sie sehen sollten, denn nur so kann sich das Gezeigte vielleicht irgendwo, irgendwann ändern. Ober gibt es eventuell sogar eine moralische Verpflichtung, es zu tun: um Vorurteile abzubauen und Tatsachen kennenzulernen? «Miraggio» ist ein Film, der uns dabei helfen kann.

Miraggio Sekou 03
Sekou

Eine endlose Odyssee


«Miraggio» (dt. Fata Morgana) der 1978 in Zürich geborenen Regisseurin Nina Stefanka begleitet sechs junge Geflüchtete aus Westafrika nach ihrer Ankunft in Italien. Der Film erweist sich als eine Reise zu sich selbst – sowohl für die Protagonisten als auch die Zuschauer:innen. In den einzelnen Portraits erfahren wir das Schicksal junger Menschen, die einem Trugbild hinterherjagen und dabei zwischen Hoffnung und Resignation oszillieren. Getragen von Sehnsucht nach einem besseren Leben, müssen sie bald erfahren, wie ihre Vorstellungen vom Glück in Europa am System der Asylpolitik zerbrechen. Umherirrend auf der Suche nach Dokumenten und Arbeit, scheint ihre Odyssee endlos. Im Vordergrund steht hier nicht die Fluchtgeschichte, sondern der Mensch mit seinen existenziellen Fragen.

Miraggio Drissa 03
Drissa

Eine Fata Morgana

 

In «Miraggio» geht es um die Ausweglosigkeit: in der Heimat, bei den gefährlichen Zwischenstationen auf der Flucht, bei der ersehnten Ankunft in Italien und schliesslich im Aufrechterhalten der Illusion eines besseren Lebens gegenüber den Verwandten in Afrika. Der Film lebt von starken Bildern und den Stimmen der Geflüchteten, aber auch von unkommentierten Passagen aus ihrem Alltag, unterstrichen von einer emotionalen, zum Teil beklemmenden Musik. Ein eindrückliches Dokument aus nächster Nähe – über Menschen, deren Verzweiflung sie nach Europa treibt, ungeachtet aller Gefahren und Konsequenzen, und die dort nicht an ihr Ziel kommen. Der preisgekrönte Film trifft mit leiser Wucht, ohne zu moralisieren oder aufdringlich zu sein, mitten ins politische Zeitgeschehen und in unser Menschsein.

Miraggio Bubu 02 mp
Bubu

Gedanken der Regisseurin Nina Stefanka

Der Film wird aus der Perspektive der Protagonisten erzählt. In ihren persönlichen Erzählungen und Ansichten ergänzen und kommentieren sie sich gegenseitig und schaffen so ein Gesamtbild eines grossen und sehr unbehaglichen Gemütszustands, in dem sie sich befinden. Sie erzählen offen, dass sie aus wirtschaftlichen Gründen hier sind, aber auch, dass sie den beschwerlichen Weg nicht auf sich genommen hätten, wenn sie in ihren Herkunftsländern oder in Libyen, wo alle schon waren, hätten arbeiten können. Solange ihre Heimatländer ausgebeutet werden, respektive die Regierungen sich korrumpieren lassen, werden ihnen immer wieder andere Menschen nach Europa folgen. Ein weiterer Pull-Faktor ist das Aufrechterhalten der Illusion eines besseren Lebens in Europa gegenüber Verwandten und Freunden in Afrika. Doch selbst diejenigen, denen es gelingt, einen Aufenthaltsstatus zu erlangen, sind in Italien auf sich allein gestellt und finden meist nur unter ausbeuterischen Bedingungen in der Landwirtschaft Arbeit; am Monatsende ist die Verschuldung trotz harter Arbeit meist höher als das Einkommen.


Miraggio 01 Alassane
Alassane

Aus einem Interview mit Nina Stefanka (Regie) und Cécile Welter (Schnitt)

 

Wie hast du diese Männer getroffen? Wie sind sie zu Protagonisten geworden?
Nina: Das Filmprojekt brachte eine grosse Vorlaufsrecherche mit sich. Letzten Endes haben wir die Protagonisten zusammen mit Balkissa Maiga (Drehbuch und Übersetzung) am Bahnhof Termini in Rom getroffen und uns dort ein Büro in einem Café eingerichtet. Dort haben wir einige Tage verbracht und so die Protagonisten über mehrere Connections kennengelernt. Das hat die Zusammenstellung der Protagonisten gegeben. Wir haben viel mit ihnen geredet. Die Sprache war ein zentrales Element des Vertrauens, um zu erklären, wer wir sind und was unser Anliegen ist, weil es grundsätzlich grosse Skepsis gegenüber uns gab.

Das heisst, ihr habt von Anfang an mit der Übersetzerin gearbeitet? Ihr wart das Team?
Nina: Ja, so haben wir die Protagonisten kennengelernt. Als ihrer Sprache Unkundige wäre es anders nicht möglich gewesen, Zugang zu den Menschen zu bekommen. Wir konnten teilweise französisch oder italienisch sprechen, doch diese Sprachen hätten nicht ausgereicht für Details.

Du hast viele Recherchen gemacht, es gibt viele Orte und Protagonisten im Film. Wie habt ihr euch entschieden, zu drehen?
Nina: Die kontrollierten Aufnahmen im Immigrationsbüro musste man organisieren, koordinieren und auch eine Drehbewilligung einholen. Gleichzeitig hatten wir Drehphasen, wo wir einfach ein paar Wochen zum Drehen hingefahren sind. Während dieser Zeit hat sich meist herausgestellt, wann die Entscheide über die Anträge fallen, dann konnten wir mit den Protagonisten einen Dreh organisieren. Das andere war, dass wir uns ihnen angepasst haben, zum Beispiel die Szene am Anfang des Filmes, wo sich Issa schlafen legt.

Cécile, du hast zuvor noch nie einen Dokumentar-Kinofilm geschnitten. Wie geht man hier im Vergleich zum Spielfilm an das Material heran?
Cécile: Bei einem Spielfilm gibt es ein Drehbuch, an das man sich halten kann. In unserem Fall hatten wir wahnsinnig viel Material. Der Film ist eigentlich erst am Schnittplatz entstanden. Probleme waren, wie man die Geschichte erzählt, welchen Rhythmus man wählt und welchen Protagonisten man folgt. Die Sprache war eine weitere Schwierigkeit. Oft mussten wir den Schnitt am Schluss von Balkissa bestätigen lassen. Der Prozess war so, dass wir mit dem Filmmaterial begannen und dann die Geschichte um diese Charaktere herum entwickelten.
Wir haben festgestellt, dass sich die Protagonisten oft im Kreis drehen. Ich glaube zwar, Hoffnung haben sie trotzdem. Und der Film zeigt das auch. Doch ich als Aussenstehende finde das System hoffnungslos, weswegen der Film uns so wichtig erscheint.
Nina: Zum Beispiel die Szene, in der sich Issa schlafen legt. Man filmt sie, steht da, geht nach Hause und legt sich ins warme Bett. Das ist diese Weltungerechtigkeit, die man aushalten muss. Wir essen und reden zusammen, es sind Menschen wie du und ich. Das war die Spannung, die ich akzeptieren musste und mich nicht ins Mitleid flüchten wollte. Dadurch hätte ich mich von den Menschen distanziert, was ich nicht wollte. Das hinterlässt am Ende des Films auch einige Fragezeichen.

Vernetzungen

 

In einem Interview mit der Bestseller-Autorin Elif Shafak fand ich Aussagen, die hierher passen: «Es ist nicht mehr der Moment, apolitisch zu sein. – Die Kunst des Erzählens ist für mich eine Form des Widerstandes. – Ich spreche nicht von Parteipolitik, sondern von Menschenrechten und Meinungsfreiheit. Überall, wo Ungleichheit herrscht, wird es politisch.»

Von den zahlreichen Filmen zum Thema «Flüchtlinge» folgt abschliessen eine kleine Auswahl, die weitere Aspekte des Themas beleuchten: «Amin» von Philippe Faucon, «Eldorado» von Markus Imhof, «L'Escale» von Kaveh Bakhtiari, «Midnight Traveler» von Hassan Fazili, «Terraferma» von Emanuele  Crialese, «Volunteer» von Anna Thommen und Lorenz Nufer, «Vol spécial» von Fernand Melgar, «When I Saw You» von Annemarie Jacir).

Gerne verweise ich auf den Beitrag von Maja Petzold im Seniorweb über das Buch «Flucht. Eine Menschheitsgeschichte von Andreas Kossert, das sich dazu eignet, die Einzelgeschichten im Film in die Menschheitsgeschichte einzuordnen.

Regie: Nina Stefanka, Produktion: 2020, Länge: 86 min, Verleih: First Hand Films