Monster

Unschuldsvermutung: Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-Eda hat mit seinem Spielfilm «Monster» ein neues Meisterwerk geschaffen. Inhalt, Form und Gehalt sind grossartig, herausfordernd und bereichernd. Ab 27. Dezember im Kino
Monster

Im Urwald der Jugend

Hirokazu Kore-Eda, der Grossmeister des aktuellen japanischen Kinos, ging in seinem neuen Film, nach fünf Dokumentar- und 15 Spielfilmen, erneut dem Thema nach, das im Hintergrund all seiner Werke durchscheint: Immer wieder urteilen und verurteilen wir Handlungen und Menschen, im Extremfall wird jemand zum «Monster».

Das geschieht spontan oder mit Absicht. Er oder sie wird zur Bestie als maximalen Gegensatz zum normalen Menschen. Zahlreiche Märchen, Mythen, Sagen und die Entsprechungen im Kino handeln davon, www.popkultur.de zählt 44 Monster-Filme. Monster müssen sterben, erst dann ist die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt und kann das Leben seinen gewohnten Lauf nehmen. – Dieser Film zeigt, wie schnell jemand zum Monster wird, welche Dynamik das Wort auslöst und wie die Entwicklung sich ändern kann.

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Dorf am Rande der Stadt

Zum Einstieg

 

Kore-Eda kreist in den meisten seiner Filme um Familien und Verwandtschaften, um alte und vor allem junge Menschen. In seinem neuesten Werk geht er einer solchen Familien und der Institution dahinter auf den Grund. – Einen interessanten Einstieg bietet vielleicht das Durchscrollen durch die Besprechungen und das Erinnern an diese Filme, sechs davon sind auf dieser Website besprochen: «La Vérité» über das Lügen, «After the Storm» über Misserfolge, «The Third Murder» über die Wahrheit, «Shoplifters» über ein spezielles Familienmodell, «Our Little Sister» über Geheimnisse der Kinderwelt, «Like Father, Like Son» über das Generationenleben und «Air Doll» über das Wesen des Menschseins.

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Lehrer Mori (l) mit Schüler

Das Kind, die Mutter und die Schule

Minato, ein Fünftklässler, lässt sich von seiner Mutter Sari Mugino nicht mehr einfangen und läuft aus dem Bild, Sari bleibt drin. Langsam beginnt sie am Verhalten ihres Sohnes zu zweifeln. Der Pubertierende weicht ihren Fragen aus, will allein sein und gibt an, sein Gehirn sei gegen das eines Schweines ausgetauscht worden. Etwas scheint hier nicht mehr zu stimmen. Ab Anfang sind er und seine Schulfreundin Yori Angelpunkte des Films.

Herzstück und Heldin ist die alleinerziehende Saori, die nach Andeutungen ihres Sohnes, in der Schule sei es zu einem gewalttätigen Übergriff durch Lehrer Hori gekommen, bei der Rektorin vorspricht. Zur Sitzung erscheinen fünf Männer und verbeugen sich in überschwänglicher Entschuldungsgeste vor ihr. Noch nie war Kore-Eda mit seiner Kritik an den verlogenen Höflichkeitsfloskeln seiner Landsleute so deutlich gewesen wie hier. Doch diese Rituale und Reglemente entsprechen genau dem, was er aus seiner humanistischen Haltung heraus schon früher kritisiert hatte. Zum Schluss fleht Saori die Rektorin nochmals an, nicht Formeln herunterzubeten, sondern ihr von Mensch zu Mensch zu begegnen, worauf diese nochmals die Etikette zelebriert.

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Schüler und Lehrer

Rituale und Paragrafen, die töten können

Bald schon spürt man, dass Kore-Eda in seinem neuen Film mit Akira Kurosawas «Rashomon» aus dem Jahre 1950 im Hinterkopf arbeitet und ähnlich wie jener mit «Monster» nach der Wahrheit, genauer den Wahrheiten sucht. Dafür zeigt der Psycho-Thriller drei Ansichten eines brennenden Hochhauses und drei Deutungen dieses Ereignisses sozialer Verwerfungen, ergänzt mit kurzen, uns verunsichernden Szenen. Im Narrativ sind es die wie ein Flächenbrand sich ausbreitenden Gerüchte um das brennende Epizentrum.

In Zeiten sich zuspitzender Debatten im öffentlichen Raum und in den sozialen Medien mahnt der Film zu Vorsicht, fordert er konstruktives Zweifeln, bevor der nächste Shitstorm anrollen wird. Dies eingedenk der Überzeugung, dass nicht nur das Sein das Bewusstsein, sondern auch das Bewusstsein das Sein schafft. Für diese Erweiterung werden neue Personen mit anderen Situationen und verwandten Themen in die Geschichte eingeführt. Sie bringen neue Perspektiven und ermöglichen ein breites Gesamtbild, wenn der Film auch nie vortäuscht, die ganze Wahrheit abzubilden.

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Minatos und Yoris erste Liebe

Zwei wichtige Mitwirkende

Für «Monster» hatte Kore-Eda ausnahmsweise kein eigenes Drehbuch verwendet, sondern verfilmte eines von Yuji Sakamoto, das in Cannes als bestes ausgezeichnet wurde. Es ist thematisch und formal abwechslungsreicher als seine eigenen Drehbücher. Die Episoden sind kürzer, wechseln schneller und unvermittelt, was beim Publikum mehr Thrill und mehr Unsicherheit auslöst und schliesslich zu dem aus der Antike bekannten Satz führt: «Ich weiss, dass ich nichts weiss.» Das wird zur Prämisse des ganzen Films, der von Anfang an mit starken Bildern daherkommt.Mit einem grossen Feuer beginnt, was ein Haus einstürzen lässt, mit einer grossen Flut endend, was die Erde wegschwemmt, und dazwischen gilt es, gegen einen Sturm anzukämpfen, der alles durcheinanderbringt. – In diesem Makrobereich entwickelt der Film einen Mikrobereich mit einer Geschichte, in der Schritt um Schritt die Entwicklungspsychologie von Minato und der anderen Kinder und Jugendlichen beschrieben wird.

Dass der Film trotz der vielen Details und einer vorwärtsdrängenden Dynamik nicht auseinanderfällt, ist dem Drehbuch, der Regie und der Musik Ryuchi Sakamotos zu verdanken, dem der Film auch gewidmet ist, da er kurz nach dieser Arbeit verstorben ist.

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Minator (r) und Yori

Das Erwachsenwerden durchdekliniert

«Monster» reisst die Zuschauenden und Zuhörenden vom genauen Beobachten zum ganzheitlichen Mitfühlen, bei dem die Musik zum Träumen einlädt. Vom dramaturgischen Rahmen Kurosawas löst sich Kore-Eda in zwei Richtungen über den ganzen dritten Teil: einerseits das Leben der Buben und Mädchen der Schule von Minato, anderseits das Leben der Hauptprotagonisten draussen in der wilden, ausgelassenen Kinderfantasiewelt, auf die hin das Erwachsenwerden wie durchdekliniert wird.

Dem jungen Freundespaar, das eigentlich nicht zueinander finden dürfte, bleibt nur die Flucht in das Versteck im Wald und die Abenteuer, die sie sich dort bei Regen und Sturm abtrotzen. Einige Waldszenen haben mich spontan an «L'Îlot» des Schweizer Regisseur Tizian Büchi erinnert, der in einem Wald in der Nähe von Lausanne einen geheimnisumrankten meditativen Ort gefunden hat, der für die dortigen Bewohner ähnlich als Fluchtort diente wie der Wald für Minato und Yori.

Vom Ende auf den Anfang zurückblickend, lesen sich die aktionsreichen Kinderszenen im letzten Teil als Zusammenfassung der über den ganzen Film verstreuten Episoden, die wohl mit Fug und Recht als ein Kinderparadies gelesen werden dürfen, sozusagen die Orte und Zeiten der sich entwickelnden Pubertät, des Aufwachsens, des Erwachsenwerdens, ja vielleicht sogar des Menschwerdens.

Irgendwann bei «Monster» ist mir einer der grossen Filme zum Thema Kindheit eingefallen: «Zéro de Conduite» von Jean Vigo aus dem Jahre 1933. Dieses Werk des französischen Kinos, genährt von der Revolution, war wohl auch schon Vorbild der 68er-Bewegung und gesellt sich hier ebenbürtig zu Hirokazu Kore-Edas «Monster». Näher an unserer Zeit und eher in der heutigen Tonlage wäre da noch «Les quatre cents coups» von François Truffaut von 1959 anzuführen. – Und nun verlasse ich den Film und frage mich immer wieder neu, ob nicht, angeregt durch die Bilder dieser Geschichte, eine Unschuldsvermutung immer besser ist als eine Verurteilung zum Monster.

PS: Gerne empfehle ich Ihnen einen Artikel im MAGAZIN Nr. 50, 2023, Seite 25 – 28, von Thomas Meyer, der sich zum Weiterdenken des im Film «Monster» angesprochenen Themas eignet: Weniger fies denken! Wir urteilen viel zu schnell und oft auch falsch über andere. Das Ergebnis sind Diskriminierung, Verschwörungsglauben und Eheprobleme.

Regie: Hirokazu Kore-Eda, Produktion: 2023, Länge: 126 min, Verleih: Cineworx