Ajami
Tel Aviv, Jaffa, Ajami. Hier ist das Babel der Gegenwart, das Leben ein permanenter Ausnahmezustand. Verfeindete leben hier als Nachbarn auf engstem Raum, befreundete auch.
Omar, der sich in die junge Hadir verliebt hat, wird in einen Streit mit einer mächtigen arabischen Familie verwickelt und von ihrer Rache verfolgt. Ihm bleibt nur die Flucht, und dennoch kann er die Stadt und Hadir nicht verlassen. Seine letzte Chance ist, das von einem islamischen Richter festgesetzte, doch unbezahlbar hohe Schuldgeld aufzutreiben. Auch Omars Freund Malek braucht dringend Geld, denn seine Mutter ist schwer krank. Um die Behandlung bezahlen zu können, arbeitet er illegal in Israel. Das Leben des jüdischen Polizisten Dando nimmt eine tragische Wendung, als sein Bruder spurlos verschwindet. Zutiefst überzeugt, dass er Arabern in die Hände gefallen sei, schwört er Rache. Während er das Schicksal seines Bruders aufzuklären versucht, bietet sich Malek und Omar ein vielversprechendes Geschäft mit zwielichtigen Drogenhändlern. Doch die Ereignisse geraten ausser Kontrolle. Omar, Malek und Dando werden in eine Kriminalgeschichte verwickelt, die alles verändern wird.
Wahrnehmung und Wirklichkeit
Zugegeben: Viele sind des Konflikts im Nahen Osten überdrüssig und stecken Nachrichten über neue Eskalationen zwischen Palästina und Israel als alltäglich weg. Der Spielfilm «Ajami» gehört zu jenen Projekten, die deutlich machen, dass es miteinander viel besser geht als gegeneinander: Mit Yaron Shani und Scandar Copti haben ein Israeli und ein Palästinenser sich daran gemacht, das zu beweisen. Ihr packender Spielfilm ist auf dem Boden des Nahost-Konflikts entworfen und vor dem Hintergrund der religiös mit geprägten Spannungen in Szene gesetzt, doch er handelt von ganz grundlegenden Fragen und führt eindrücklich vor Augen, wie eingeschränkt unsere Wahrnehmung ist, wie sehr wir dazu neigen, aus Elementen der Wirklichkeit die Wahrheiten zu destillieren, um dann jedoch festzustellen, dass es doch anders war, als wir eben noch gemeint hatten.
Annäherung an die Wirklichkeit
Fast täglich hören, sehen und lesen wir über Israel/Palästina: eine halbe Spalte in der Zeitung, fünf Minuten im Radio, dreissig Sekunden im Fernsehen. Gemeldet wird, wenn Politiker etwas beschlossen oder versprochen haben, wenn es auf der einen oder andern Seite Tote gegeben hat. Solche Informationen bleiben notgedrungen an der Oberfläche. Sie müssten länger sein und mehr Hintergrund liefern; doch sie bleiben im Vordergrund, auf der «Vorderbühne». Der Soziologe Erving Goffman unterscheidet beim Beschreiben der Gesellschaft zwischen einer «Hinterbühne» und einer «Vorderbühne», was uns hier vielleicht als Modell auch weiter hilft.
Mehr jedoch als nackte Informationen können Spielfilme liefern. Sie haben mehr Zeit, um auf die Menschen einzugehen. Vom mehr oder weniger alltäglichen Leben in Israel/Palästina handeln Filme, in der Mehrzahl von israelischen oder arabischen Regisseuren realisiert, wie: «Das Herz von Jenin», «Free Zone», «Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen», «Jaffa», «Kaddisch», «Kadosh», «Le cerf-volant», «Lemon Tree», «Munich», «Paper Dolls», «Paradise Now», «Private», «Promises», «Salt of this Sea», «Telling Strings», «The Band's Visit», «The Bubble», «The Iron Wall», «The Syrian Bride», «The West-Eastern Divan Orchestra», «Ticket to Jerusalem» und «Waltz with Bashir». Weil bei der Produktion und bei der Rezeption mehr Zeit und Engagement eingesetzt wird, führt jetzt der Blick auf die «Hinterbühne», in die Tiefe, zeigt das alltägliche Leben der Menschen in Israel/Palästina.
«Ajami» geht für mich noch ein Stück weiter. Er zeigt nicht bloss die Situation der Palästinenser oder der Israelis. Er untersucht das komplexe System zwischen Kultur und Religion innerhalb der einen Gruppe und zwischen den beiden (wie es soeben Olivier Roy in seinem Buch «Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen) wissenschaftlich analysiert hat. Im Film erleben wir dies in einem grossartigen Fresko, gekleidet in die Form eines spannenden Kriminalfilms.
André Marty, der frühere Nahostkorrespondent des Schweizer Fernsehens, fasst dies wohl am besten zusammen, wenn er in seinem Blog schreibt: «“Ajami“, das ist ein Stadtteil im Süden Tel Avivs, jener Teil Jaffas oder Yafos, wo weder Touristen noch jüdische Israeli sich hin verirren. „Ajami“, das ist eines der vielen vergessenen und verdrängten Gesichter des Landes. „Ajami“, der Film, lässt sich ein auf die Realität, den Alltag in dieser Sub-Welt. Ein hartes Stück für Zuschauer und interessierte Landsleute. Im Film werden ausschliesslich Laienschauspieler eingesetzt, alle leben sie in Ajami – Authentizität vom feinsten.»
Unabhängig vom lokalen Konflikt ist «Ajami» ein bewegender Film über das Zusammenleben unter erschwerten Bedingungen, bei dem wir uns mehrfach in derselben Situation ertappen, in der sich auch mehrere seiner Hauptfiguren wiederfinden: War das eben doch nicht so, wie wir es gemeint hatten? Für uns im Kino hat das keine weiter reichenden Folgen als die, dass wir erkennen, was ein veränderter Blickwinkel, im wahrsten Sinn des Wortes, bewirken kann. Für die Figuren der Geschichte jedoch kann die falsche Interpretation von etwas Gesehenem tödliche Folgen haben. Der Film ist so klug gebaut, dass er die Geschichte aus mehreren Perspektiven erzählt, ohne sie einfach zu wiederholen, vielmehr um uns mehrmals eine andere Ansicht und Einsicht zu gewähren. Das enthält Sprengkraft.